Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Wälder hinausgelangt waren in einen freien Raum, der entfernt an die Steppe erinnerte – in die Tundra. In ihr gab es alles in Fülle: Wild, Vögel, Fische. Aber vor allem riesige Rentierherden, in deren Nähe es ihnen niemals an etwas mangeln würde. So fingen sie an, den Herden hinterher zu ziehen, vom Saum des Meeres im Sommer zum Saum der Tundra im Winter. So entstand jene Sprache, die ihr Volk bis zur Vollkommenheit beherrschte: die Sprache des Nomadenlebens. Das Ren wurde Quelle für Nahrung, Kleidung, Haus, allen Transport. Jedes Knöchelchen seines Skeletts wurde so fest wie im Knochengerüst des Tieres selbst in die Kultur eingebaut. Es gab kein Stückchen Fleisch, das nicht seinen Wert besaß, kein Stückchen Haut, das nicht verwendet wurde – für die Njuki (die Abdeckungen der Tschums), die Toboki (die hohen, am Taillengürtel festgebundenen Fellstiefel) oder das Winterkleid des Menschen, die Maliza, mit der er auf dem nackten Schnee schlafen kann wie das Ren … So entstanden allmählich die Wörter dieser Sprache. Zugleich mit dem Gespann die Namen für jedes seiner Einzelteile und seines Schmucks, für die verschiedenen Arten von Schlitten, für die Reihenfolge bei der Zusammenstellung des Argisch (des Schlittenzugs) und für die zusammengespannten Tiere, mit dem unbedingt links laufenden Leitren. So entstanden die Bräuche, darunter der, Braut und Bräutigam zum Hochzeitsfest eine gekochte Zunge und ein gekochtes Herz vom Ren aufzutischen, damit sie fortan ein Herz und eine Sprache hätten. So erlangten die Menschen in der steten Bewegung und dem Kreisen um die Herde eine andere Völker verblüffende Mobilität, Geschicklichkeit und Ausdauer. So buchstabierte sich in ihrem Organismus ein besonderer, für die Aufnahme großer Eiweißmengen erforderlicher Enzymcode aus. So wurde im Umherziehen das Universum der Tundra bis ins Kleinste studiert, und jede Grenzscheide, jeder Hügel, jeder noch so kleine See oder einfach nur ein großer Stein erhielt seinen Namen und mit der Zeit auch eine Geschichte. So wurden die Götter und Geister gefunden und ihre Rufe gehört, so wurden einzelne Berge und Inseln zu heiligen Bergen und heiligen Inseln und wurden die Opfertiere ausgewählt – das weiße Ren und der Eisbär. 17 Und so wurden schließlich die Märchen und Lieder geschaffen und kreisten durch die Spirale der Zeit die Sagen, von denen eine Menge in den zehn Jahrhunderten zusammenkamen, in denen der Zyklus der Jahreszeiten die Herden und Menschen ihre Kreise in der Tundra ziehen ließ. So erlangte die Zeit ihre Form 18 und jedes Ding, jedes Lied, jeder Tanz seinen Rhythmus. Rhythmus der Trommel, Rhythmus der nach Tagen berechneten Fortbewegung. Es ist ein beeindruckendes Schauspiel, wenn im Frühjahr die elf von der Halbinsel Kanin stammenden nenzischen Brigaden aus ihren Winterlagern in den Wäldern des Archangelsker Gebiets zurückkehren und eine nach der anderen – eine jede mit Tausenden Renen und über eine durch Jahrhunderte festgeschriebene Route – den engen, höchstens vierzig Kilometer breiten Trichter zur Halbinsel passieren. Tag um Tag ziehen sie voran, Hunderte Gespanne mit sämtlichem Hausrat, Tschums und Zelten, Fässern zum Einsalzen von Fisch, Netzen, Gewehren, Instrumenten und Kleidern, mit allem, was ein sich mit dem Notwendigen begnügendes Volk besitzt. Und jede Brigade kennt ihre Route so genau, als seien in der Tundra besondere Wegweiser aufgestellt. Dies – dies ist die vollkommene Beherrschung der Sprache des Raumes. Einer Sprache, die lebendig war, bis das nomadische Leben erlosch.
Heute bringt ein Kilo Renfleisch keine zwei Dollar, einen dagegen eine Zeile für ein ernstzunehmendes Presseorgan. Anders gesagt, ein Zeitungsbeitrag von hundertfünfzig Zeilen ist ebenso viel wert wie ein geschlachtetes Tier – und Renfleisch ist ausgezeichnetes Fleisch, zart, erlesen! Putzig, was? Einhundertfünfzig Zeilen eines egal wie dummen Artikels stehen im Preis gleich auf mit einem lebensnotwendigen Gut. Die »zivilisierte Menschheit« hat seit langem vergessen, was Hunger ist.
Sie ist satt.
Mehr noch, sattgefressen, überfressen. Sie garniert das Fleisch dänischer Schweine mit Gewürzen und Oliven, bringt es sogar fertig, noch Gelee hineinzumanövrieren, und bietet dazu hundertfünfzig Arten von Beilagen und ebenso viele Biersorten an, bloß um dieses Stückchen Fleisch irgendeinem Verbraucher in den Mund zu stopfen. Und wer sich überfressen hat, dem verschreibt sie
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