Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
langsam, aber stetig zunehmender Erschöpfungszustand des ganzen Organismus nach neun bis zehn Marschstunden. Wenn du sämtlichen am Morgen und Mittag gebunkerten Brennstoff aufgebraucht hast und an die Grenzen dessen gelangt bist, was du aushalten kannst, wenn du zum zweiten und zum dritten Mal »neue Kräfte geschöpft« hast und jetzt die letzten Reserven deines Körpers mobilisierst – sofern er natürlich noch welche besitzt. Ich war schmal, was zu meinem eher üblen Befinden beitrug. Irgendwie wurde alles Äußere, alles, was den Weg nicht leichter machte (oder schwieriger), wie von selbst aus dem Bewusstsein verdrängt. Ebenso Schritt für Schritt alles »Überflüssige« aus dem Blickfeld – du schaust nur unter deine Füße. Und mit dem Gehör ist es nicht anders. Bei besonderer Belastung pocht dir das Herz schon nicht mehr im Hals, sondern buchstäblich im Kopf. Zur physischen Symptomatik gesellen sich ein Gefühl von Übelkeit und Überreizung sowie unkoordinierte Bewegungen.
Am allerwitzigsten ist, dass dieser Phase eine weitere folgt, die sich nicht einmal mehr als »Ich kann nicht mehr« Nummer vier bezeichnen lässt, weil man sich in ein Wesen verwandelt, das ganz ohne Sinn und Verstand handelt. Weshalb das Signal »Ich kann nicht mehr« nicht länger sprachlich artikuliert wird. Es erreicht das Hirn nicht mehr. Sein Übermittler – die Angst – schweigt. Es gibt keine Angst. Auch keinen Körper. Und kein Bewusstsein. Sofern natürlich man nicht den Gedanken, dass jetzt zu krepieren wahre Glückseligkeit wäre, als ein Produkt des Bewusstseins ansehen will.
Krepieren. Das Wort spukte selbstverständlich nicht nur einmal durch den Kopf. Aber jetzt, da wir auf dem leeren Strand zu Abend gegessen hatten – zu Abend gegessen und, statt das Zelt aufzuschlagen und uns aufs Ohr zu legen, erneut die Rucksäcke geschultert hatten und auf den gelben Sonnenuntergang zuliefen –, begriff ich endlich, dass es gar nicht so einfach ist mit dem Krepieren. Der Mensch ist zäh und ausdauernd, der Schweiß seines ausgelaugten Körpers ist beißend wie Säure, sein Herz schlägt in der erkalteten Brust wie ein Vogel, und sogar die Spucke in seinem Mund ist kalt, aber er läuft und läuft und krepiert nicht, auch wenn er sich selber hundert Mal gesagt hat, sich befohlen hat: »Ich kann nicht mehr!« Da zeigt sich, wer wir sind. Wir ziehen – zähe Menschenpferde – den Faden unserer Spur den Saum des Meeres entlang, die Frühjahrserde aufreißend wie ein Pflug.
Wozu?
Aber wie hättest du, der diese Zeilen schreibt, dem Raum eine Sprache abzwingen wollen, ohne ihn mit dem eigenen Ich vermessen zu haben? Wie und worüber würdest du mit ihm sprechen, ohne begriffen zu haben, was er ist? Über Politik? Dem Raum ist Politik egal. Über Poetik? Dem Raum ist Poetik egal. Über die Reinheit des Genres? Aber das Genre wird ja gerade erst zur Welt gebracht, das Gehäuse der Sprache öffnet sich gerade erst einen Spalt, und der erste Tag der Wanderung ist nicht der Zeitpunkt für Verallgemeinerungen. Vorerst hat dich der Raum gelehrt, den Bauchgurt des Rucksacks enger zu ziehen und so die Schultern ein wenig zu entlasten. Denn die Schultern, das sind die Hände. Und die Hände, das sind – Berührung, Betasten, Aufmerksamkeit. Mit frei werdenden Händen geht die Blindheit zurück. Und die Ohren beginnen zu hören. Das hast du begriffen? Der Raum hat es dich gelehrt. Er wird dir auch Worte eingeben, keine Sorge, er wird dir die hier zum Überleben notwendige Sprache beibringen. Eine genaue, umfangreiche Sprache, scharf wie ein Messer. Vorerst kennst du nur wenige Wörter: Wind, Feuer, auch Lehm, und Wasser – aber du wirst sie lernen, zwangsläufig. Vielleicht wird es überhaupt eine andere Sprache sein, eine diesem Raum stärker eigene Sprache als das Russische, vielleicht das Nenzische oder die noch ältere Sprache jenes ausgestorbenen Volkes, das einzig die steinernen Kekuren hinterlassen hat – diese Monolithen, die von einem Stein gekrönt sind, der an das Profil eines aufs Meer schauenden Menschen erinnert.
Sid, Sed, Siejdde
– es ist nicht schlimm, dass du im Moment nicht einen Deut verstehst, du wirst dich in die Magie dieser Wörter hineinarbeiten und begreifen, dass auf diesem Ufer anders zu sprechen sich nicht lohnt:
Sid, Sed, Siejdde
. Aber vorerst versperrt uns ein Priel den Weg, und Petka, der ihn durchqueren wollte, ist in eine Falle geraten.
Der Lehm ist über seinen Füßen zugeschnappt.
Beim
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