Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
reglos und durchsichtig wie ein Kristallbrocken erscheint, nur am Ablauf liegen die Strähnen der Gräser in Fließrichtung, sich sanft bewegend, und auf dem Grund ist jedes Steinchen und jedes Sandkörnchen zu erkennen. Eine Waschung mit diesem Wasser – und die Erschöpfung geht zurück, ein Bad darin – und sie geht ganz vorüber.
Dann wird da der blaue See mit den zwei Schwänen sein, und weiter in der Tundra der Kolk mit dem alten Wasser. Ein nicht sehr tiefer, voller schwarzer Moltebeer- und Weidenblätter, die dem Gewässer eine braune, teegleiche Farbe verleihen, aber Leser, solltest du denken,
altes
Wasser sei einfach Wasser, das seit der Schneeschmelze in dem Loch steht, so ist das ein Fehler. Vielleicht war dieses Wasser im Frühjahr tatsächlich
schlicht und einfach
Wasser, aber dann wurde es in diesem Trichter
alt
. Und weder kann man damit den Durst löschen noch erquickt ein Bad in ihm …
Warum?, werde ich gegen Ausgang der sechsten Stunde fragen, und die Neugier wird meinen Schritt beflügeln. Ist es denn nicht dieselbe Formel, H 2 O? Es ist dieselbe Formel, nur den Durst damit löschen kann man nicht und nicht darin baden, denn altes Wasser lebt immer nur in sich, es kennt weder den Zugang zu unterirdischen Quellen noch einen erfrischenden Zustrom; einzig Schnee und Nebel und Regen, die es speisen, trübes Himmelsnass, und das Wasser selbst wird trübe. Und die Formel – was ist die Formel? Wieder jener Eidos, der zu nichts taugt. Wie auch die euklidische Geometrie nicht, mit der hier weiß der Teufel was passiert, so dass die Kilometer nach Stunden abgemessen werden müssen und als kürzester Weg nach Haus sich die Gänse und Schwäne auf dem blauen Wasser erweisen, bei deren Anblick ich auf der Stelle hinübergerate … Ja, in eine dieser sanften Aprilnächte, eine dieser wunderbaren Nächte, in denen man
das Gras wachsen hört
, das die toten Blätter anhebt, während der zunehmende Mond durch den kahlen Frühlingswald treibt, der erfüllt ist vom Geräusch der aufsteigenden Säfte. Und ja, meine Liebste stand neben mir und ich vernahm diesen seltsamen wehmütigen metallischen Laut – »u-en! u-en!« – in den Lüften, der besagte, dass am Nachthimmel, unsichtbar, Schwäne hinauf in den Hohen Norden zogen, die schimmernde Dunstblase Moskau umrundend. Von den schilf bewachsenen Holmen im Varangerfjord und den Schwaneninseln vor der Nordküste der Krim, wo der Strand aus winzigen, pausenlos im warmen Meer heranwachsenden Muscheln besteht, sind sie hierher geflogen, zu den blauen Tundraseen, wo es die letzten Kleinodien lebendigen und toten Wassers gibt, wo für sie das Paradies ist, das Paradies, weil wir, die Menschen, nicht da sind …
Vor Beginn der Wanderung, bei den diversen Kalkulationen über der Karte, hattest du, der Autor dieser Zeilen, doch putzigerweise angenommen, ein Kilometer bestehe aus ungefähr anderthalbtausend Schritten, die geduldig mit den Vermessungskräften des Ausschreitenden abzumessen seien?
Aber jetzt, jetzt weißt du: ein Kilometer – das ist der Weg ins Paradies durch die Hölle, das ist das Schlagen des Herzens auf die Schamanentrommel, der Fluch des bültenübersäten Bodens, die Erschöpfungskotze, die Angst- und Selbstmitleidfäulnis, die sich mit einemmal wie ein Klumpen in der Kehle festsetzt. Ein Kilometer – das ist ein ernstes Selbstgespräch, mein Freund, ein Gespräch über den eigenen Wesenskern, darüber, wozu du jenseits deiner melancholischen urbanen Klugdenkereien noch fähig bist. Wozu bist du überhaupt fähig in der Zone des Risikos, in der ausnahmslos alle Klugdenkereien keinen Heller wert sind? Folge deinen Gefährten, o Autor dieser Zeilen, und es werden sich dir noch viele Wahrheiten auftun!
Ein paar Wörter waren immerhin gefunden: ein paar nicht ganz unnütze Wörter. Du hattest gar nicht so wenig erfahren für einen Tag. Hättest du mit mehr rechnen können? Eine Sprache entsteht langsam. Über anderthalbtausend Jahre. Anderthalbtausend Jahre sind vergangen, seit die Hunnen, zwischen den Ausläufern des Sajangebirges vorstoßend, die Nenzen von ihren Weideplätzen am Irtysch und oberen Ob aufschreckten und in die Wälder vertrieben, von wo sie ihre lange Wanderung hinauf in den Hohen Norden begannen. Die Erde schwankte, solange Num ihr keine Festigkeit verliehen hatte, indem er den großen Stein des Ural aufrichtete. Ebenso schwankte die Lage der Nenzen, solange sie nicht über den Rücken des Ural wieder aus dem Dickicht der
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