Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
Vom Netzwerk:
Abmagerungspillen.
    Dabei sind all die Würste, Schinken, Hähnchen- und Poulardenfilets im Vergleich zu einem Stück frischen, nach Möglichkeit rohen Rentierfleischs einfach nur gegarter Pappkarton, der den Magen ganz unnütz verdirbt. Erst nachdem ich ein Stück rohes Fleisch probiert hatte, begriff ich, was das ist: ein Energieklumpen, der im Magen wie eine Sonne explodiert, und dessen lebensspendende Wärme dich strahlengleich bis in die Finger- und Zehenspitzen hinein ausfüllt. Rentierblut macht betrunken wie Wein und erfüllt den Menschen mit brodelnder Lebenskraft.
    Aber die Menschen brauchen die Kraft absolut nicht. Wo sollten sie hin damit? Dafür leiden sie an emotionalem Hunger, an Hyperdynamik, sensorischer Unterernährung, Apathie und Spleen. Weshalb sie auch nur denjenigen großzügig entlohnen, der ihre Langeweile zu zerstreuen vermag, indem er ihnen ordentlich die Nerven malträtiert. Denn die Langeweile ist das Fundament unserer heutigen Kultur, und es ist dies eine so allumfassende und so komplexe Sache, wie es die Mechanik der Bewegung ist, bei der es keine Langeweile gibt und nicht geben kann.
    In der Kultur unserer Tage gibt es Stimulanzien und Antidepressiva, nur keine Kraft. Und wohl auch niemanden, der sie einem zu geben vermag. Sich im freien Raum zu stärken, das ist so ungewohnt wie beängstigend. Vor allem aber kann keiner begreifen, wozu sie gut sein soll, die Kraft – das ist so unbegreiflich, wie anstelle von Bier ein Glas lebendigen Blutes zu trinken.
    Dort, wo die Nenzen nicht mehr nomadisieren, sondern sesshaft geworden sind, entstanden freudlose Siedlungen vom Typus Bugrinos. Und alle Qualitäten, mit denen die Natur dieses Volk ausgestattet hatte, wurden ihm plötzlich zur Falle: Mobilität und Ausdauer waren bei der monotonen Büro- oder Fabrikarbeit, die die neue Zeit verlangte, hinderlich, und die Enzymsysteme zum Abbau von Eiweiß erwiesen sich gegenüber dem Alkohol als machtlos.
    Sie vergaßen die Sprache der Kraft, die Sprache des Raumes. In ihrer Sprache tauchte ein anderes Wort auf: »aussterben«. Und der Raum verschloss sich für sie.
    Von allem, was ich später über die Frage von Raum und Mensch gelesen habe, ist das, was René Guénon über das Raumverschlingende der Zeit in seinem Buch
Le Règne de la quantité et les signes des temps
(1945) schreibt, zweifellos die beeindruckendste und kompromissloseste Reflexion. Man könnte meinen, es sei alles nur eine Metapher. Aber so dunkel Guénon sich ausdrückt, seine Sprache scheut die Metaphorik. Deshalb ist es trotz allem interessant, sich zu fragen, was hinter seinen Worten von der »Erschöpfung« des Raumes steht, der im Lauf der menschlichen Kultur seine einstige sinnstiftende Funktion verloren habe und nicht länger als lebenswichtige Kategorie aufgefasst wird. Den Platz des Raumes nehme die Zeit ein, wörtlich heißt es bei Guénon: »Die Zeit zehrt den Raum auf.« Wo einst, Symbol für die Freiheit des Geistes, die Welt der Weiden und Lichtungen war, schreibt er an anderer Stelle, mehren sich die Städte, diese »körperhaften Manifestationen« der »Kristallisation, Verfestigung, Versteinerung« des Lebens. Anscheinend waren für Guénon die Städte, egal wie groß, immer von der Zeit verwandelter, »aufgezehrter«, wie verdinglichte Aktivität selbst Zeit gewordener Raum. Guénon vertritt die Ansicht, dass, sobald die Zeit den Raum endgültig verschluckt haben wird, dieser wie jene in den ursprünglichen Zustand des nicht Materialisierten zurückkehren wird, doch nur um sogleich »einen neuen Zyklus zu durchlaufen«.
    Guénon hält sich nicht damit auf, seiner Argumentation irgendeine Form von Wissenschaftlichkeit zu geben, nicht zuletzt deshalb, weil er der Wissenschaft seiner Zeit zutiefst kritisch gegenüberstand. Weshalb ich nicht behaupten will, sein Denken wenigstens halbwegs verstanden zu haben. Aber intuitiv spüre ich, dass darin eine tiefe, noch von niemandem ausgesprochene Wahrheit liegt. Werden unsere Städte denn nicht immer mehr zu toten, kristallisierten Gebilden? Doch. Umgreift – bei aller Vielfalt unserer Verbindungen mit der ganzen Welt und unserer ungeheuren Mobilität – unsere urbane Lebensweise denn wenigstens ansatzweise die Frage des Raumes? Mitnichten, diese Fragestellung existiert nicht. Es gibt kein Rätsel des Raumes, keine geheimnisvollen, zauberischen Orte. Der Raum hat seine Kraft verloren, und die Menschen müssen sich ihre Stärkungsmittel anderweitig suchen …
    Die immer

Weitere Kostenlose Bücher