Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
vollkommeneren Kommunikationsmittel verschärfen das Problem nur, wie auch die immer schnelleren Fortbewegungsmittel. Das Auto ist das beste Symbol für die raumverschlingende Zeit (für verdinglichte Aktivität). Das Auto »degradiert« den Raum kolossal, indem es ihn möglichst unauffällig macht. In der »Vernichtung« des Raumes kann mit ihm nur der Computer konkurrieren, in dessen Kontext als wirkliche Wirklichkeit nicht der lebendige Raum bezeichnet wird, sondern jene neue – »virtuelle« – Dimension, die nichts anderes ist als komprimierte, zu Selbstentfaltung befähigte programmierte Zeit. Vor dem Computer kann der Mensch sein Raumgefühl beinah ganz verlieren.
Und es wäre zu klären, was er dabei noch verliert.
Eine tragische Antwort auf den Raumverlust sind die Drogen: In gewissem Sinn versuchen die Menschen mit ihrer Hilfe, der Welt die Mehrdimensionalität und das Geheimnis des Raumes zurückzugeben. Den veränderten Bewusstseinszustand nennen deshalb viele »Reise«, obwohl diese Reisen oftmals nicht über die Grenzen eines schäbigen Zimmers hinauskommen. Aber das ist ein Raum, in dem nichts geschieht und nichts geschehen kann. Ein Raum, der sich selbst erschöpft hat.
Guénon spricht nicht zufällig von der »Freiheit des Geistes«, die in den Weiden und Lichtungen symbolisiert sei. Das russische Wort
Wolja
, das – von allerlei Nebenbedeutungen abgesehen – gleichermaßen »Wille« und »Freiheit« bedeutet, transportiert immer auch die Idee von Unbeschränktheit und Weite und ist deshalb
kein
Synonym von
Swoboda
, des anderen russischen Wortes für »Freiheit«, das einzig in engem sozialen und politischen Sinne verstanden wird als etwas Deklariertes, ein Gesetzeswerk, eine Konstitution, mit der eben jene Ordnung der Dinge festgeschrieben wird, die allein schon (da in der Regel eine simple Kopie des amerikanischen historischen Vorbilds von 1787) die »Freiheit des Geistes« negiert.
In diesem Sinne schließt sich ein wechselseitiges Verstehen zwischen Menschen archaischer Kulturen, die noch vom Raum umfangen werden, und heutigen Stadtbewohnern, denen der Raum nur noch mittelbar (etwa in Form von Flugverbindungen), nicht aber mehr als selbständige, aktive Kraft entgegentritt, zweifellos aus. Der Minimalismus der traditionellen Kulturen steht im Gegensatz zum heutigen Typus des »Verbrauchers« ebenso wie zu den Bergen von Waren, deren der zivilisierte Mensch bedarf, um seine Energieressourcen aufzufüllen. Wozu lebt er sonst? »Im Raum leben« bedeutet zuallererst: handeln. »In der Zeit leben« bedeutet: verbrauchen, seine verdinglichte Arbeitszeit (Geld) gegen Waren eintauschen, die ihrerseits verdinglichte Zeit sind. Die populärste Ware – Stimulanz für die emotionale Sphäre des »zivilisierten Menschen« – ist die Information. Das Fernsehen stellt zweifellos die mächtigste Energiequelle dar, die den Menschen direkt an unerschöpfliche Zeitressourcen anschließt. Aber selbst wenn man die Fernseher, die Videoplayer, Radios und unvorstellbaren Mengen von Musik auf allen erdenklichen Tonträgern abstellt, bleiben immer noch die gedruckten Medien, die Bücher, Zeitungen, Zeitschriften. Würde man sämtliche Zeitungen, die an einem Tag in Moskau erscheinen, zerlegen und auf dem Boden nebeneinanderbreiten, so wäre von ihren Seiten sicherlich nicht nur ganz Moskau bedeckt, sondern auch ganz Kolgujew mit seinen nicht ganz unkomfortablen 3200 Quadratkilometern.
Besagt das etwas? Etwas zweifellos.
Was?
Ich weiß es nicht.
Das operative Gedächtnis unseres Hirns ist zwar enorm, aber wenn es täglich diese Flut von Scheiße verarbeiten muss, die auf den Menschen einschwappt, der ihr nichts entgegenzustellen hat, so reichen seine Kapazitäten nicht aus, um langsameren und reifen Gedanken nachzugehen. Die Unfähigkeit zu eigenständiger Reflexion aber – sie ist die gefährlichste Krankheit unserer Zeit.
Was ich hier sage, ist nicht nach jedermanns Geschmack.
Aber alle werden bald die Rechnung bezahlen.
René Guénon ist insofern Optimist, als die Rückkehr von Raum und Zeit in den Zustand der Nichtmanifestation für ihn
einzig und allein
den Auftakt zum nächsten Manifestationszyklus markiert. An der zyklischen Theorie über die Entwicklung der Welt ist das einzig Außergewöhnliche, dass im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit
nicht der Mensch
steht. Guénon ist sich aber bewusst, dass der Mensch nichts Geringeres ist als die Geisel großartiger, seinem Bewusstsein nicht unterworfener
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