Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Durchqueren eines Wasserlaufs mit lehmigem Grund muss man den Stiefel mit der Spitze nach unten in den Boden bohren, um den Fuß leichter wieder herausziehen zu können. Petka aber ist aus Erschöpfung mit der ganzen Sohle aufgetreten. Dazu noch mit beiden Füßen.
Er steckt, in immer schiefere Neigung geratend, im Lehm fest, schaut stumm und kläglich wie ein Tier unter dem schweren Rucksack hervor. Nicht auf uns, sondern auf das Wasser, das immer höher zu den Stulpen seiner morastigen Stiefel hinaufsteigt. Er ist dabei, zugrundezugehen. Er hat keine Kräfte mehr. Er ist so erschöpft wie ich, wenn nicht noch mehr, sieht und hört so wenig wie ich.
Wir müssen ihn rufen, müssen ihn aus seiner Stummheit herausreißen, seinen Blick vom Wasser losreißen, bewirken, dass er es versucht …
Nein, er wird nicht ertrinken. Er wird einfach mit diesem Rucksack ins Wasser fallen und bis auf die Haut durchnässt werden – bei dieser Kälte, diesem Wind …
Wir rufen:
»Petja, Petja …«
Er blickt auf, sieht uns aus trüben Augen an.
Alik redet ihm zu:
»Dreh den Fuß mit der Ferse ein klein bisschen aufwärts … Versuch ihn herauszuziehen … Versuchs …«
Es ist, als würde Petka erwachen. Wie ein Pferd, das aufzustehen versucht, macht er mehrere verzweifelte Anläufe – und kommt frei.
Er klammert sich ans Ruder, das wir ihm entgegenstrecken, an die Hände, die ihn betasten, ihm den Rucksack von den Schultern nehmen, auf den Rücken klopfen.
Petka steht da. Dann setzt er sich. Dann fängt er zu lachen an …
Das ist seine Art zu weinen.
Vor Beginn unserer Wanderung hatten wir über der Karte diverse Kalkulationen angestellt …
Etwa die Kilometer errechnet.
Putzig.
Aber wir wussten ja nicht … Wussten nicht, dass die Kilometer sich bis zur Unendlichkeit ausdehnen würden, in Schmerz verwandeln, zu Salzgeschmack auf den Lippen, zum herb-bitteren Aroma der Rosenwurz, die wir kauen, wenn keiner dem anderen mehr Kraft zu geben vermag. Außer jeder sich selber.
Die Schritte. Zur Vermessung des Raumes habe ich später das Wort »Tundrakilometer« erfunden, ein Längenmaß zwar, das aber nicht in direktem Verhältnis zu der nach Russland gelangten Kopie Nr. 28 des in Sèvres verwahrten Urmeters steht. Generell ist der Tundrakilometer eine schwer fassbare Größe, um die Entfaltung des Raumes in der Zeit darzustellen – das Auseinanderziehen jenes Akkordeons, das auf den Landkarten in Gestalt der auf den ersten Blick so harmlosen Relieflinien erscheint. Rauf/runter, rauf/runter – und das vielleicht zehn Mal auf einen Längenkilometer. Welche Strecke haben wir also tatsächlich zurückgelegt, wenn wir anderthalb Stunden gelaufen sind? Der »Tundrakilometer« beinhaltet auch Gefühlswerte, darunter alle drei Phasen des »Ich kann nicht mehr«, sowie die Glückseligkeit des Rastens und überhaupt alles, was sich auf die Fortbewegung auswirkt. Denn kalkuliert man die Gefühle nicht mit ein, die anfängliche Euphorie und die folgende Stumpf heit – diese Gefährtin des langsamen oder aus dem Tritt geratenden Schritts – und die der Verzweiflung so ähnliche Freude der letzten Stunde, wenn man plötzlich, die Pause vorausahnend, Gas gibt, dann braucht man überhaupt keinerlei Dingen Rechnung zu tragen, sondern verlässt lieber erst gar nicht das Haus. Oder »reist«, wie im Geographieunterricht, auf der Landkarte …
Aber wenn du weißt, wie die Wegstrecke in Stunden auszumessen ist, dann kannst du darauf zählen, dass dir das Kraft und Zuversicht gibt. Da mag sich zum Beispiel am Ende der zweiten Stunde auf einer weißen Sandbank vor deinen Augen ein gigantischer, über und über mit holzwurmgestochenen Tätowierungen verzierter Lärchenstamm auftun, in dem die Larven ihre Schriftzeichen nicht nur unter der Rinde hinterlassen haben, sondern auch bis ins Mark vorgedrungen sind, die mächtige Säule mit Tausenden Öffnungen durchbohrend, in denen sich während der Irrfahrt des Baumes über die Meere Algen und winzige Muscheln angesiedelt haben, und nun, da er hier auf dem Ufer wieder ausgetrocknet und knochenbleich geworden ist, hausen darin nur Sandkörnchen und der Wind, der unablässig auf dieser phantastischen Flöte zu spielen, ihren Abertausenden Öffnungen Orgelklang abzuzwingen sucht, weshalb über den Stamm bisweilen seltsame Töne hinstreichen. Dies also wird gegen Ausgang der zweiten Stunde sein.
Und am Ende der vierten – ein kleiner Bach mit einer Badestelle voll so reinen Wassers, dass sie
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