Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
der Jagd auf ein Tier, tötete er es nicht gleich, sondern sprach zunächst mit ihm: »Ja, Fürst der Bären, ich weiß, was du sagst, du kommst zu mir und willst, dass ich dich töte … Komm, komm, der Tod steht für dich bereit, aber ich suche ihn nicht …« So rechtfertigte er sich vor der Familie des Eisbären.
18 Die nomadische Zeit ist zyklisch. Bis heute ist den Nomaden des Hohen Nordens die lineare Zeit des Fortschritts fremd, obwohl sie nicht selten mitten in ihr an ihr vorbeileben.
Der Vogelring
Die erste Folge des treffsicheren Schusses: unmittelbare und unverhohlene Freude über die erlegte Beute. Unser Trekkingführer Alik Ardejew hatte aus fünfzig Metern Entfernung geschossen, die Patronen waren alt, die Flinte – eine Kleinkaliberbüchse mit pockennarbig-rostigem Lauf – funktionierte normalerweise nicht auf Anhieb, sondern beim dritten, wenn nicht fünften Versuch, und dann steckte im Lauf kein Schrot, sondern eine Bleikugel; so krachte der Schuss gewissermaßen überraschend, aber als ich neben der Gans stand, war sie tot, auf der Brust schimmerte nur ein kleiner roter Fleck, die Augen waren geschlossen. Da aber zeigten sich gleich noch zwei Folgephänomene: Zum einen war die Gans beringt, und zum anderen war sie warm. Warm! Wir waren ausgehungert, aber noch stärker waren wir nach stundenlangem Marsch in der Tundra durchfroren. Vom Meer her zog wie immer eisiger Nebel auf, die Nase tropfte, die Hände waren steif vor Kälte, gummiartig …
Beim Auf heben der Gans spürte ich sofort diese Wärme des dem Leben gerade entrissenen Lebens, ich schob meine Hände in ihr Gefieder wie in einen Muff und umfasste fest den heißen Körper. Während ich meine klammen Hände wärmte, bat ich das getötete Tier in Gedanken um Vergebung und frohlockte zugleich, dass in ein, zwei Stunden, wenn wir endlich unser Nachtlager erreicht und Feuer gemacht hätten, sich diese Gans in einen herrlichen, goldschimmernden Gänseeintopf verwandeln und allen von ihrer Lebenswärme abgeben würde, die ich, im Laufen das arme Tier rupfend, bis dahin alleine genoss: Selbst als ich auch die Daunenfedern ausgerissen hatte und das Tier nackt war, war es noch warm – so viel Leben also steckte in ihm!
Der Gedanke an die Gans und an das, was wir um den Preis ihres Lebens oder, genauer, ihres Todes gewannen, beschäftigte mich derart, dass mir das letzte Wegstück leichtfiel, obwohl wir eine alles andere als wanderfreundliche Gegend durchquerten: Es gibt in der Tundra Abschnitte, wo der Boden auf so merkwürdige Art eingekerbt ist, dass sich ein Muster aus lauter Ringen ergibt. Dieses Muster – Folge unerklärlicher geometrischer Anwandlungen des Permafrosts – ist gut erkennbar, weil das Moos über den Ringrillen von dunklerem Grün ist. Man läuft gleichsam über einen grenzenlosen Teppich, dessen Dessin sich endlos wiederholt. Seine Weichheit und die Rillen sind ein einziges Hindernis beim Laufen – und doch überkommt einen plötzlich der unerklärliche kindische Wunsch, von Ring zu Ring zu springen, wie aus einer Welt in die andere. Oder aus einem Rätsel in das andere.
In der Entdeckungsgeschichte der Insel, die zu beschreiben ich mir vorgenommen habe, ist ein unglaubliches, in sich geschlossenes Sujet eingelagert, wie die Historie nicht wenige kennt. Und es überrascht nicht, dass darin ein Vogel vorkommt: Diese Insel, ihre endlosen wüsten Täler und kleinen schwanenreichen Seen, ihre lehmigen, mit Vogelknöterich bewachsenen Lajdas in den Flussmündungen, die abgelegenen, mit winzigen Sträuchern für Schneehühner bewachsenen Bültenböden, die Seeadler- und Eulenhänge, die Schnepfensümpfe und möwenüberzogenen Flachwasser – das ist doch ehrlich gesagt alles Vogelland, ein Paradies für Vögel, aber, offen gestanden, kein sonderlich geeigneter Ort für das Glück der Nachfahren Adams. Aber aus seinem Paradies vertrieben, freut sich der Mensch auch über fremde Paradiese. Es waren die Gänse, die russische Pomoren zur Insel hinüberlockten: in unzähligen Himmelsschwärmen zogen sie vom Festland nordwärts zu unbekannten Weideplätzen, und in ihrem Gefolge zogen über das wellenbedeckte blaue Meer die Kotschen und Lodjen 19 der Promyschlenniki.
Auch die Europäer lockte letztendlich ein Vogel zu den unwirtlichen Gestaden der Insel, ein Vogel, der bei ihnen von alters her ebenso hoch im Kurs stand wie Gold, Waffen oder ein edelrassiges Pferd. Hier tritt nun besagtes Sujet hervor, und zwar gegen Ende des 13.
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