Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Jahrhunderts, als der Venezianer Marco Polo mit seinem Vater Nicolò und dem Onkel Maffeo nach China an den Hof des Kublai Khan auf brach. Die beiden Älteren hatten bereits in alle Himmelsrichtungen das Reich des Dschingis Khan bereist, waren in Saraj an der Wolga und im berühmten Buchara gewesen und hatten in China lange am Hofe des großen Kublai Khan gelebt, der mit Interesse den Berichten vom fernen Erdteil Europa lauschte. Doch auch die Kaufleute nahmen begierig Berichte über Landstriche auf, die unter tatarischer Herrschaft standen. So hörten sie von der Rus und jenen nördlichen Landen, wo während der Hälfte des Jahres dunkle Nacht herrsche und der Himmel vom wundersamen Polarlicht erhellt werde. Viele Berichte hat Marco von Vater und Onkel erfahren, viele andere hat er selbst während seiner zwölfjährigen Reise vernommen. All dies fand Eingang in sein
Buch
. Darin schreibt er: »Russland ist eine riesige Provinz, sie erstreckt sich bis zum Ozean. Auf den Inseln brüten Gerfalken und Wanderfalken, sie werden nach vielen Ländern ausgeführt.«
Marco Polo nennt alle ihm bekannten Namen eines Geheimnisses, das erst dreihundert Jahre später enthüllt werden sollte: China, eine unbekannte Insel im Arktischen Ozean und den Falken.
Seine Informationen blieben mehr als hundert Jahre reines Buchwissen: Das Wort blieb folgenlos, es war ein Samenkorn, das noch nicht aufging. Als jedoch im Jahre 1475 der berühmte Architekt Aristoteles Fioravanti nach Moskau kam, um im Kreml die Uspenski-Kathedrale zu bauen, da musste er zuvörderst einen Wunsch seines ihn ziehen lassenden Herzogs Sforza erfüllen und ihm dort im Norden, sei es zu Jagdzwecken, sei es zum Wahrsagen, einen weißen Gerfalken fangen. Fioravanti erfüllte Sforzas Wunsch, wenn auch nicht bis auf den letzten Buchstaben, wofür er eigens eine Reise unternahm, möglicherweise auf die Solowezki-Inseln.
Um der Schilderung wenigstens einen Anstrich von Geschlossenheit zu verleihen, werden von mir die Beziehungen des Moskauer Reiches zu Italien im 15. und 16. Jahrhundert mit Stillschweigen übergangen. Sie bargen unglaubliche kulturelle Entwicklungspotentiale, von denen nur ein Bruchteil Wirklichkeit wurde. Doch so merkwürdig es heute klingen mag, eine Folge dieser Beziehungen war eine ganze Anzahl geographischer Entdeckungen im Nordpolarmeer.
Hier beschreibt die endlose Spirale der Zeit eine neue Drehung; genau so zieht am Himmel der Vogel auf der Suche nach Beute seine Kreise. Als Großfürst Wassili III. 1525 Rom seine Weigerung, zum katholischen Glauben überzutreten, überbringen ließ, wählte er einen in europäischen Angelegenheiten erfahrenen Mann zum Emissär, Dmitri Gerassimow, ein Westler jener Tage, Schriftgelehrter, Übersetzer geistlicher Literatur und Diplomat. Auf einer Seereise hatte er bereits ganz Skandinavien bis Dänemark umrundet.
In Italien erzählte er dem Geschichtsschreiber Paolo Giovio von seinem Plan, über das Nördliche Eismeer, »sich an das rechte Ufer haltend« nach Osten bis China zu segeln, »sofern sich dazwischen kein Land auftut«. Noch im selben Jahr veröffentlichte Giovio in seinem Werk über Russland Gerassimows Bericht, der sich so über ganz Europa verbreitete – und selbstverständlich auf offene Ohren stieß, denn es war gerade einmal drei Jahre her, dass die
Victoria
, das einzige übriggebliebene Schiff der Magellanschen Flotte, von ihrer Weltumsegelung zurückgekehrt war. Träume von märchenhaften Schätzen Indiens und Chinas entflammten noch die Nüchternsten. Nur die von Battista Agnese nach Gerassimows »Riss« gezeichnete Karte verheimlichte Giovio – womöglich bewusst, um den beiden neuen europäischen Seemächten Holland und England, die ihre Konkurrenten im Welthandel rasch und selbstbewusst beiseitedrängten, die Sache nicht zu erleichtern.
Dennoch waren es gerade die Engländer, die als Erste darauf verfielen, der Logik Gerassimows zu folgen und über das Nordpolarmeer nach China oder Indien zu gelangen. Natürlich hatten sie keinen Begriff von der Schwierigkeit und Vergeblichkeit dieses Unterfangens. Denn in Europa herrschte die Vorstellung, das Reich der Mitte sei nicht allzuweit entfernt und es genüge vielleicht, einen ins Nördliche Eismeer mündenden mächtigen Strom zu finden, der seinen Ursprung in irgendeinem riesigen See nahm, an dessen Ufern Khanbaliq (Peking) lag.
Mit diesem Ziel rüstete Hugh Willoughby eine Kundfahrt aus und heuerte als Obersteuermann Richard Chancellor an,
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