Die Insel und ich
weißen Socken, Spitzenhosen, einer neuen Bluse, Paprikalippenstift, Nagellack und Augenschminke heim. Joan sagte: «Natürlich, die Älteste! Die kriegt mal wieder alles! Die ist eben dein Liebling! Die ist eben immer dein Liebling gewesen!»
Anne rief: «Liebling? Ist ja köstlich! Du liegst den ganzen Tag im Boot und wirst schön braun, aber ich muß durch die ganze Stadt rasen, bei schrecklicher Hitze, und furchtbar wichtige Befunde austragen. Und wenn ich nicht herumhetze, muß ich Testflaschen auskochen, und wie würde dir wohl dein Lunch in einem Saal schmecken, der nach gekochtem Urin stinkt?»
«Kochen sie da wirklich Urin?» fragte Joan.
«Natürlich kochen wir Urin», sagte Anne hochmütig. «Und wir töten Kaninchen, indem wir Luft in die Vene spritzen. Das ist der Schwangerschaftstest.»
«Aber was du auch für Geld verdienst!»
«Jeden Cent durch ehrliche Arbeit verdient!» trumpfte Anne auf. «Diese Laboratoriumsbrüder lassen mich wie eine Sklavin schuften. Glaubst du, sie lassen mich auch nur mal eine Minute sitzen?»
«Mir wär’s einerlei, ob ich sitzen dürfte oder nicht, wenn ich soviel Geld verdienen könnte», sagte Joan. «Ich möchte auch so eine Stelle!»
«Vielleicht nächstes Jahr», erklärte Anne großartig. «Wenn du älter bist. Jetzt würden sie dich noch als Kind betrachten. Und keiner will dich, bloß die Beerenfarmer, und das sind widerliche Betrüger, die sowieso nichts zahlen wollen.»
«Mir tun die Beerenfarmer leid», sagte ich. «Aus euren Gesprächen konnte ich doch entnehmen, daß ihr weiter nichts getan habt als mit euren Freundinnen Coca-Cola zu trinken und euch Beeren an den Kopf zu werfen.»
«Das haben wir nur gemacht, wenn wir ermüdet waren», sagte Joan. «Sei du mal in so einer kochenden Hitze draußen und kriech auf der Erde umher und such verschrumpelte kleine Erdbeeren!»
Mit dem nächsten Wochenlohn kaufte sich Anne einen neuen Badeanzug und Strandsandalen. Joan musterte sie neidisch, verbrachte aber ihre Tage weiterhin im Ruderboot, fing Seezungen und jagte Krabben mit ihrem Freund Bobby.
Am folgenden Zahltag kam Anne mit zwei neuen Herrensweater an, einem blaßblauen und einem gelben.
Am Montag drauf, nachdem Joan das Frühstücksgeschirr abgewaschen hatte, telefonierte sie. Dann nahte sie sich mit gespielter Gleichgültigkeit. Ich saß vor dem Sonnenschirmtisch, an die Schreibmaschine gefesselt, und versuchte schöpferisch zu sein. Sie fragte: «Mommy, würdest du mir einen ganz großen Gefallen tun?»
«Natürlich», erwiderte ich gedankenlos und erwartete eine Bitte um Makkaroni mit Käse oder vielleicht neue Strandsandalen.
«Ich habe nämlich eben mit Karen telefoniert, und sie sagt, ich könnte vielleicht bei Hawkins’ Pfirsiche pflücken. Sie zahlen fünfundsechzig Cents die Stunde, aber wenn man die ganze Saison über bleibt, zahlen sie sogar fünfundachtzig. Karen sagt, es ist leichte Arbeit, und voriges Jahr hat sie zweiundachtzig Dollar verdient. Könntest du bei Hawkins’ anrufen, ob ich die Stelle haben kann?»
«Natürlich», sagte ich und stand auf. «Willst du morgen schon anfangen?»
«Ja», sagte Joan. «Und sag ihnen bitte, sie sollen mich an der Straßenecke unterhalb vom Falkennest mitnehmen.»
Ich verlangte also die Nummer von Hawkins” Obstgärten, und nach einer Weile kreischte eine Stimme, die auf dem Amboß gehärtet war: «Häh?» und ich sagte zaghaft: «Brauchen Sie noch Pfirsichpflückerinnen?» und die Stimme fragte: «Geübte?»
«Oh, natürlich», erwiderte ich.
«Wo wohnen Sie?» fragte die Stimme.
«In Vashon-Heights, grad unterhalb vom Falkennest.»
«Meine Güte, so weit? Na, da weiß ich ja wirklich nicht… wieviel seid ihr?»
«Vier», erwiderte ich und dachte im stillen, daß es ja nicht gelogen sei, denn unsre Familie bestand aus vier Personen.
«Na meinetwegen», sagte die Stimme. «Weniger würden wir nicht abholen. Morgen früh um halb acht an der Straßenecke!»
Ich hängte auf. Joan fragte: «Was haben sie gesagt? Nehmen sie uns?»
«Uns ist allerdings richtig», entgegnete ich grimmig. «Weniger als vier wollen sie nicht abholen kommen. Kannst du noch mehr Freundinnen auftreiben? Wie steht’s mit den kleinen Mädchen, die unterhalb vom Laden wohnen?»
«Meinst du die Hansens?» fragte Joan. «Ich kann sie ja anrufen, aber die wollen, glaub ich, ihre Großmutter besuchen. Die haben Spaß im Sommer! Der ihre Mutter sagt, bloß Indianer gehn Beerenpflücken.»
Ich sagte: «Im Krieg
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