Die Inseln des Ruhms 01 - Die Wissende
genauso verzweifelt war wie ich: Er brauchte mich. Er hatte nicht den selbstgefälligen » Ich wusste, dass du zurückkommen würdest«-Ausdruck auf seinem Gesicht, mit dem ich gerechnet hatte. Stattdessen war er höflich und lächelte ein bisschen zu viel. Ich spürte, dass bei dieser Auseinandersetzung zum ersten Mal ich die Winkerkrabbe mit den größeren Zangen war …
Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, was geschehen war: Dasrick hatte deshalb als so scharfsinnig und erfolgreich gegolten, weil er sich auf mich hatte stützen können. Durch die Erfolge, die er dadurch verzeichnet hatte, hatte er es schließlich geschafft, sich in den Rat wählen zu lassen. Um allerdings dann herauszufinden, dass seine Erfolgssträhne rasch nachließ, seit er keine zahme Wissende mehr an der Seite hatte, die ihm nach Bedarf aushalf.
Am Ende sicherte er mir regelmäßige Bezahlung zu, die stillschweigende Erlaubnis, in der Nabe leben zu dürfen, sowie eine Vereinbarung, derzufolge ich nach zwanzig Jahren Dienst das Bürgerrecht erhalten würde. Damit hatte ich meine Seele für die nächsten zwanzig Jahre an die Wahrer verkauft …
Ich war gerade fünfzehn Jahre alt.
* * *
Brief des Feldforschers (Sonderbeauftragten) S. iso Fabold, Nationalforschungsministerium, Bundeshandelsministerium, Kell, an den Leitenden M. iso Kipswon, Präsident der Nationalen Gesellschaft für das Wissenschaftliche, Anthropologische und Ethnographische Studium nicht-kellischer Völker.
Heutiges Datum, 43. – 1. Doppelmond – 1793
Lieber Onkel,
danke für deine netten Worte nach meinem Vortrag. Ich war mir nicht sicher, ob er wirklich gut ankam, da er eine so hitzige Diskussion nach sich zog. Aber du hast Recht; eine solche Debatte kann für den Verein und die Zukunft der ethnographischen Studien nur gut sein.
Habe ich dir gesagt, dass Dozent Vescon iso Mattin mich anschließend angesprochen und sein Entsetzen darüber geäußert hat, dass ich ein derart charakterloses Weibsbild wie Glut Halbblut zum Gegenstand meiner Studien gemacht habe? Es gibt also immer noch kellische Wissenschaftler, die den Sinn nicht verstehen, warum ein Anthropologe sich als Feldforscher betätigt. Und er ahnt nicht im Geringsten, wie viele Äußerungen über die sexuellen Gepflogenheiten von Glut und Flamme ich bereits herausgenommen habe! Das ist einer der Nachteile, wenn sich Damen unter den Zuhörern befinden: Man muss um so vieles vorsichtiger sein.
Sag bitte Tante Rosris, dass ich die Freundlichkeit, die sie mir entgegenbringt, wie immer zu schätzen weiß. Ich werde ihr deshalb eine eigene Nachricht schicken und ihr mitteilen, dass ich Fräulein Anyara für eine außergewöhnliche junge Frau halte. Es ist erfreulich, jemandem vom weiblichen Geschlecht zu begegnen, die einen so lebhaften Geist und ein tiefes Interesse an Ethnographie besitzt. Sofern mein Vortrag sie entsetzt hat, war es ihr zumindest nicht anzumerken, auch wenn sie hinterher gestand, dass sie die Vorstellung ziemlich beunruhigend fand, dass eine Frau in einer solch offenen Weise mit einem Mann über ihr Leben sprach.
Ich habe mir vorgenommen, sie und die Familie Teron nächstes Wochenende auf ihrem Landsitz zu besuchen, der nicht weit von hier entfernt ist.
Stets
Dein gehorsamer Neffe,
Shor iso Fabold
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Nun, jetzt wisst Ihr ein bisschen mehr über mich. Es ist seltsam: seit Jahren habe ich über diese Phase meines Lebens nicht mehr gesprochen, und jetzt tue ich es mit jemandem, der nur die Hälfte von dem glaubt, was ich erzähle. Oh, Ihr müsst Euch dafür nicht entschuldigen. Es spielt wirklich keine Rolle. Ich genieße es tatsächlich sehr, in meinen eigenen Erinnerungen zu schwelgen.
Wie auch immer, kehren wir nach Gorthen-Nehrung zurück … Ich hatte gerade Dasrick allein gelassen, damit er Flamme heilen konnte, während ich Niamor aufsuchen wollte.
Ich war bereits auf der Treppe, als mir einfiel, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wo sich der Quillaner aufhielt. Und dann begann ich mir Sorgen zu machen. Wieso hatte er sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt? Mehr als zwei Tage waren vergangen, und ich hatte nichts von ihm gehört.
Ich durchquerte den Schankraum, in dem eine Gruppe Wahrer schweigend am Tisch saß; zweifellos handelte es sich um Dasricks Leibwächter. Als sie mich allein, ohne ihren Herrn, herunterkommen sahen, eilte einer von ihnen zur Treppe, um sich zu vergewissern, dass es ihm auch gut ging. Ich lächelte säuerlich; zumindest war Dasrick
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