Die Inseln des Ruhms 02 - Der Heiler
sich all das Wissen befand, das sich über Generationen hinweg angesammelt hatte. Während es an einem Ort wie der Nabe Druckerpressen und gedruckte Bücher gab, wurde auf dem Dach von Mekaté noch alles mit der Hand geschrieben. In diesem Teil des Hauses lagerten Garwin und ich auch die vielen Rauchglas-Fläschchen, die wir in Mekatéhaven gekauft hatten, um unsere Medizin darin aufzubewahren. Hier befand sich auch die Steinbank, die wir benutzten, um unsere Kräuter und Heilgetränke zu zermahlen und zu vermischen.
Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, stand Glut bereits da und betrachtete meine Bücher. Meine Mutter, meine Großmutter und Tessrym waren mit der Zubereitung des Essens beschäftigt; mein Vater und mein Bruder waren am Bach und pumpten Wasser in die Zisterne unseres Hauses hoch, während sie sich mit Garwin unterhielten. Zweifellos teilte er ihnen gerade mit, dass die Fellih-Gläubigen wegen des Gefängnisausbruchs hinter Glut, Flamme und mir her waren. Ich trat zu Glut.
» Es ist beachtlich, wie viele Bücher Ihr habt«, sagte sie. » Ist das in allen Häusern der Tharns so?«
» Ja, is es. Hier im Gilfeder-Haus handeln die Bücher hauptsächlich von Kräutern und Medizin und Krankheiten, weil wir eine Ärztefamilie sind. Jedes Haus hat seine besondere Ausrichtung. Weber, Spinner und Lederarbeiter gibt es natürlich in jedem Dorf, aber Häuser mit Ärzten seltener. Wir hier sind für die Kranken in allen Dörfern dieses Teils des Dachs zuständig. So is es auch bei anderen Häusern, die sich einem speziellen Beruf widmen, wie zum Beispiel bei den Töpfern, den Kesselflickern oder den Färbern. Diese Häuser kümmern sich alle um ein ganzes Gebiet.«
Sie stellte das Buch, das sie angesehen hatte, wieder zurück. » Und wenn ein Mitglied des Töpferhauses sich mit einem vom Färberhaus verheiraten will?«
Ich scharrte unbehaglich mit den Füßen. Die Frage wirkte zwar harmlos, aber ich spürte eine Spur unterschwelligen Spott, und der Gedanke, dass sie es wagte, uns zu verachten, schmerzte mich. » Die besondere Ausrichtung bezieht sich auf das Haus, nich auf die Familie. Genauso is es auch beim Namen. Wer hier lebt, heißt Gilfeder, und zwar so lange, wie er oder sie hier lebt und unabhängig davon, in welches Haus er oder sie einmal hineingeboren worden is. Meistens streben die Leute danach, einen Partner zu finden, der den gleichen Beruf hat. Wenn das nich so is, muss einer von ihnen seinen Schwerpunkt ändern. Es gibt keine Ausnahmen. Das war auch eines der Probleme für Jastriá. Sie stammte aus dem Haus der Lackierer, aber sie hatte es gehasst. Als wir geheiratet haben, erklärte sie sich bereit, Hebamme zu werden, aber sie war dafür nich geeignet. Sie lernte nich, und sie ging … nun, sie war nich besonders taktvoll gegenüber den Patientinnen. Sie hat sich nich wirklich darauf eingelassen.«
» Und sie hat keine andere Wahl gehabt?«
» Die einzige Wahl, die man hat, besteht darin zu entscheiden, ob der Mann in das Haus der Frau zieht oder umgekehrt, oder ob beide ganz woandershin gehen. Was allerdings auch davon abhängig is, welches Haus überhaupt ein freies Zimmer hat. In einem Haus dürfen nämlich nie mehr als zehn Leute zusammenleben.«
» Aber Ihr könntet doch sicher ein neues Haus bauen«, sagte sie.
» So etwas tun wir nich.«
Sie starrte mich etwa eine Minute lang an. » Dann vermute ich, habt Ihr auch nie ein neues Dorf gegründet.«
Ich schüttelte den Kopf. » Die Himmelsebene hat bereits die Grenze erreicht, was die Anzahl der Selber betrifft. Noch mehr Dörfer, und wir würden alle leiden.«
» Das war dann also der Sinn dessen, was Ihr zu Eurem Bruder gesagt habt. Ihr habt ihm die Erlaubnis gegeben, eine Familie zu gründen. Das ganze System ist sehr … starr.« Ihre Miene war ausdruckslos, aber sie konnte die Spuren ihrer Missbilligung nicht von meiner Nase fernhalten.
» Das mag Euch so vorkommen, aber Ihr solltet auch Folgendes bedenken: Hier muss nie jemand frieren, sich ungeliebt fühlen oder Hunger leiden. Niemals.« Ich hatte die Worte ohne besondere Absicht gesagt, aber ich musste nicht sehr einfühlsam sein, um zu erkennen, dass ich damit etwas in ihr getroffen hatte. Sie warf mir einen scharfen Blick zu, als wollte sie fragen: Woher wusstet Ihr das? In diesem Moment begriff ich, dass sie eine Kindheit voller Entbehrungen erlebt haben musste. Ich sprach eilig weiter. » Auf der Himmelsebene gibt es auch so gut wie keine Verbrechen. Keine Morde, keine
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