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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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dachte oft an sie, viel zu oft. Und wenn der Schmerz in seinem Bein, das damals bei dem Kampf an der Pewsumer Mühle schwer verletzt worden war, ihm noch zusätzlich den Kopf benebelte, weinte er leise um sein verlorenes Glück, bis das Bier ihm eine selige Welle des Vergessens schenkte.
    Heute war er recht nüchtern. Eine lange Sitzung in der Kanzlei hatte unnötig viel Zeit gekostet. Es ging um Politik, aber Rudger verstand das Geschäft nicht, wollte es auch gar nicht verstehen. Es war ihm egal, denn er wusste nur zu gut, wie käuflich die Mächtigen waren und wie wenig sie sich um das Wohlergehen der Bevölkerung scherten. Das Ganze widerte ihn lange schon an.
    Zurzeit sprachen alle nur von der Schwangerschaft der Fürstin. In vier Monaten erwartete sie ihr zweites Kind, und am Hof hoffte man, betete sogar, dass es ein gesunder Junge werden würde. Insbesondere, nachdem die vor vier Jahren geborene Tochter des Fürstenpaares nur zwei Winter überlebt hatte. Dieses Mal musste es klappen, immerhin harrte man schon seit zehn Jahren auf einen Thronfolger. Der jetzige Fürst bot ein solch deprimierendes Bild, dass ihm keine große Lebenserwartung mehr zugesprochen wurde. Außerdem war er mit den politischen Unruhen überfordert.
    Es hieß, die Renitenten machten in Emden gemeinsame Sache mit den Preußen. Der Direktorialrat Homfeld, ein überaus gewiefter Syndikus und Politiker, hatte den Aufständischen weisgemacht, dass alle ihre Sorgen und Unzufriedenheit unter der Herrschaft Friedrichs II. ein Ende hätten. Die Friesen waren den Bürgerkrieg leid, sie wollten alles glauben, was Frieden versprach. Und nun fürchtete das Fürstenhaus in Aurich, die Emder könnten durch ihre neuen Freunde zu mächtig werden, insbesondere weil Carl Edzards Zustand immer kümmerlicher schien, seit er seiner Geliebten nachtrauerte.
    Auch Rudger spürte, dass etwas in der Luft lag. Viele meinten sogar, das Schicksal des freien Ostfrieslands könnte für immer verändert werden.
    Aber was kümmerte es ihn? Sein Leben war nur einen Dreck wert, seine Kinder waren zwar gesund, aber dumm und garstig. Auch ließ er sich immer wieder aufs Neue von Weert Switterts schikanieren, treten wie einen Hund, war er doch abhängig von dessen Gunst. Er musste sich alles gefallen lassen. Es war heute nicht schlimmer als gestern, und morgen würde es sich auch nicht ändern. Es war zum Heulen.
    »Rudger?«, hörte er eine leise Stimme scheinbar aus dem Nirgendwo. Er verlangsamte sein Humpeln und schaute nach rechts, von wo das leise Rufen gekommen war. Eine dunkle Häuserecke verbarg in ihrem Schatten eine Gestalt. Nur einen nackten Fuß und den zerfransten Saum eines Mantels konnte Rudger erkennen. Er bekam es mit der Angst zu tun. Nachts waren die Straßen nicht sicher, ganze Räuberbanden belagerten die Stadt. Denn das Elend der Bevölkerung brachte immer zahlreicher finstere Gestalten hervor.
    »Komm her!«, flüsterte es erneut. Dann trat die Person hervor. Es war eine Frau, von oben bis unten eingehüllt in einen zerschlissenen Mantel. Sie trat sehr vorsichtig auf ihn zu, fast schüchtern, und zog ein Kind hinter sich her.
    Rudger hätte schwören können, dieses Weib noch nie zuvor gesehen zu haben, doch dann hob sie mit zitternden Fingern die Kapuze vom Kopf, und langsam, ungläubig und doch voller Hoffnung, erkannte er Trientje. Ihr Haar war strähnig und stumpf, das Gesicht hager und schmutzig. Und doch erschien sie ihm so schön, dass er sicher war, wohl nur einem Traumbild begegnet zu sein. Hatte er vielleicht zu viel getrunken?
    Seine Trientje war doch tot, bei der Geburt ihres Kindes gestorben, damals vor fast zehn Jahren. So hatten sie es ihm erzählt, als er nach seiner schweren Verletzung endlich wieder Kraft genug besaß, das Haus am Stadtrand zu besuchen. Voller Freude war er damals zunächst dort hingegangen, denn Weert hatte ihm und Trientje wie versprochen die Heiratserlaubnis erteilt und sogar ein kleines Säckchen Geld spendiert als Ablösesumme. Doch stattdessen hatte ihm die Hurenmutter Trientjes bunten Umhang überreicht und mit traurigem Blick erzählt, dass weder Mutter noch Kind die Strapazen der Niederkunft überlebt hätten. Es hatte ihm das Herz zerrissen, und er war sich sicher gewesen, dass dies die Strafe sein musste für den gottlosen Überfall auf die Mühle, bei dem auch eine junge Mutter und ihr Kind gestorben waren. Doch mit den Jahren hatte Rudger sein furchtbares Schicksal akzeptiert und nach langer Trauer

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