Die Inselvogtin
gekommen war, bestand eine Chance, dass Jan sich zu dem entwickelte, was dieses Land so nötig brauchte: einem starken, aber gerechten Fürsten.
Es war jetzt Anfang Mai und so friedlich wie seit Jahren nicht mehr. Zwar gab es immer mehr Arme auf den Straßen, Räuber und Bettler und Huren, aber ebenso war es zahlreichen Menschen gelungen, endlich so etwas wie einen bescheidenen Wohlstand zu erlangen. Von Sturmfluten verschont, wurden Höfe gebaut, Felder bestellt, Ehen arrangiert und Kinder geboren.
Tasso wusste nicht genau, warum er trotzdem immer öfter das Gefühl hatte, dass es sich nur um die Ruhe vor dem Sturm handelte, um diesen Moment, bevor der Wind sich dreht, bevor die Wolken brechen und die Flut heranrollt.
Aber er hielt seine Augen und Ohren offen. In Emden saßen die preußischen Soldaten auf der Lauer. Und seit ein paar Wochen erzählte man sich, dass der Fürst unter einer merkwürdigen Schwäche litt, die ihn ständig unpässlich machte. Außerdem war Weert Switterts nach seiner Flucht vor sechs Wochen scheinbar spurlos verschwunden. Tasso wurde den Gedanken nicht los, dass diese drei Dinge – die Lauerstellung der Preußen, die Krankheit Carl Edzards und das Untertauchen des verstoßenen Geheimrats – zusammenhingen.
Er legte den Pflug zur Seite, wischte sich die schmutzigen Hände an der Hose ab und schaute in die Sonne. Bald war Mittagszeit. Wenn er sich beeilte, erreichte er noch zeitig genug Hage, wo heute Markttag war. Er musste sich nach neuen Sämereien umschauen, denn er hatte festgestellt, dass die Ernte besser ausfiel, wenn man jedes Jahr ein anderes Gemüse pflanzte. Vielleicht sollte er es mal mit Bohnen versuchen? Oder mit Schwarzwurzeln? Wenn die Kartoffeln in diesem Jahr wieder so dick und rund würden, könnte er sich im Herbst ein Schwein oder Schaf kaufen. Das war eine gute Perspektive. Mehr war nicht zu erwarten.
Auf dem Marktplatz in Hage, unweit der Ansgarikirche, tummelten sich mehr Menschen als gewöhnlich. Tasso erkannte bald, woran es lag: Ein Bote des Fürstenhauses stand am Brunnen und hielt eine Schriftrolle in der Hand. Das bedeutete, dass es entweder neue Erlasse des Herrschers gab oder dass etwas anderes passiert war. Für die Geburt des erwarteten Thronfolgers war es noch zu früh.
»Carl Edzard macht es nicht mehr lange «, verriet ihm ein Viehhändler, den Tasso vom Sehen kannte. »Der Fürst kann nicht mehr aufstehen, will nicht essen … «
Das Gesicht des Mannes schien eher belustigt als besorgt. Das Verhältnis des Volkes zu seinem Herrscher hatte sich in den letzten Jahren noch weiter verschlechtert. Es gab in Ostfriesland wohl keinen Menschen mehr, der Carl Edzard den nötigen Respekt entgegenbrachte.
Der Bote erzählte jetzt etwas von einem Vertrag. Doch die wenigsten Menschen auf dem Platz hörten noch zu, wenn es um komplizierte politische Angelegenheiten ging. An einem Stand pries eine Frau gerade geschlüpfte Küken an, die Hennen im zweiten Käfig gackerten mit ihr um die Wette. Weiter hinten ließ ein Scherenschleifer seinen Stein kreisen. Tasso musste ganz nah an den Brunnen herangehen, um den Boten verstehen zu können.
» … dass die Renitenten ihre enteigneten Herrlichkeiten wieder zurückbekommen. Paragraph 17 sieht vor, dass die Landeskasse wieder zurück in die Hafenstadt Emden verlegt wird … «
»Wovon redet er?«, fragte Tasso einen Mann in feinerem Zwirn, der ebenso interessiert lauschte.
»Die Renitenten haben in Emden eine Konvention verabschiedet. Ostfriesland soll die preußische Erbfolge anerkennen, dann würden uns als Dank bei der Übernahme einige Rechte zugestanden, die uns seit der Weihnachtsflut verwehrt geblieben sind.« Der Mann schien sich über die Aussicht zu freuen. Und Tasso wusste, die meisten Menschen im Land hofften inzwischen, dass Ostfriesland preußisch werden würde.
Friedrich II. war bekannt für seine Volksnähe. Er hatte die Folter abgeschafft, setzte sich für die Toleranz zwischen verschiedenen Religionen ein und war zudem ein recht erfolgreicher Kriegsherr. So einen wünschte man sich auch hier.
Tasso kommentierte die Ansichten des Fremden nicht. Er hatte es aufgegeben, irgendjemanden überzeugen zu wollen, für die eigene Freiheit zu kämpfen und sich keinen neuen absolutistischen Herrscher zu suchen. Die Menschen waren für die wirkliche Freiheit wohl einfach zu bequem.
»He, Bote!«, rief da ein Bauer, der bekannt dafür war, gern das Wort an sich zu reißen. »Sag, wer steckt denn
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