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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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erkennen. Die Tür zum Hinterzimmer stand ebenfalls offen. Selbst wenn sich der Brand in zerstörerischer Weise ausbreitete, konnte man erahnen, dass hier zuvor ein Kampf stattgefunden haben musste. Denn kein Stuhl stand mehr auf seinen Beinen, das Zeichenmaterial war umgeworfen, und einige Regale lagen am Boden.
    Der Weiße Knecht blickte zu dem Krug in der Ecke, in dem Herz stets seine neuesten Zeichnungen aufbewahrte, doch er war leer. Nicht eine Papierrolle befand sich darin. Wer immer das hier zu verantworten hatte, musste die wertvollen Karten vor dem Brand in Sicherheit gebracht haben. Und hatten die Soldaten nicht längliche Bündel bei sich getragen? Das konnten Bajonette gewesen sein. Aber auch Landkarten. Und diese rußgeschwärzten Hände? Ja, kein Zweifel, die Soldaten des Fürsten hatten das Feuer gelegt. Doch was war mit Josef Herz geschehen? Vielleicht war er gar nicht daheim gewesen? Manchmal unternahm er ausgiebige Spaziergänge am Deich. Doch der Weiße Knecht erinnerte sich an das Blut auf den Degen und wusste, dies war keine Hoffnung, an die er sich klammern sollte.
    »Josef Herz? Ich bin hier! Ich will dir helfen!«
    Was rief er da? Es erinnerte ihn an jene Nacht, in der er ebenfalls hatte helfen wollen, obwohl er wusste, dass es für Rettung schon längst zu spät war. Nein, das durfte nicht sein! Dieser alte Mann war ein guter Mensch, der niemandem etwas getan hatte. Warum waren sie ausgerechnet heute gekommen? Und warum taten sie ihm das an?
    Wie von Sinnen stürzte der Weiße Knecht in das Hinterzimmer. Dicht hinter ihm krachte unter großem Lärm ein schwerer Dachbalken nieder. An beiden Enden war das Holz schon von der Glut zerfressen. Glühende Flocken schwebten durch den Raum. Asche und Hitze fraßen sich in seine Lungen, er musste husten.
    Der Rückweg durch die Vordertür war nun versperrt, er konnte diese Flammenhölle nur noch durch eines der hinteren Fenster verlassen. Aber nur mit Josef Herz, schwor er sich. Er würde diesen mutigen Mann nicht dem Feuer überlassen. Aber wo war der Jude?
    Der Weiße Knecht blickte sich panisch um. Und obwohl er geahnt hatte, dass Josef Herz schon nicht mehr am Leben war, warf ihn der Anblick, der sich ihm nun bot, fast um: Der alte Mann lag am Boden, sein braunes Gewand war getränkt von Blut und zerrissen von Degenhieben. Die Soldaten hatten ihm noch nicht einmal die Augen geschlossen. Es sah aus, als starre der Kartenmaler reglos auf das Feuer, das mit unglaublicher Gewalt sein Zuhause vernichtete. In einer Hand hielt er einen Bogen Papier. Doch noch bevor sich der Weiße Knecht das Schreiben näher ansehen konnte, warf sich plötzlich eine riesige Flamme durch die Tür und setzte das Tischtuch in Brand, auch die Vorhänge fingen Feuer. Von einem Moment auf den anderen war das Hinterzimmer ein Labyrinth aus Flammen, Rauch und einstürzenden Balken.
    Es blieb dem Weißen Knecht keine Zeit mehr. Er steckte den Brief in seine Tasche, dann griff er dem alten Juden unter die Achseln und versuchte, ihn zum Fenster zu ziehen. Der Mann war mager und klein, dennoch machten Hitze und Luftmangel das Heben zu einem beinahe übermenschlichen Akt. Es war schrecklich heiß. Es war die Hölle.
    Mit dem Ellenbogen stieß der Weiße Knecht die Scheibe ein. Das Fenster war winzig, es maß gerade eine Elle im Quadrat. Und als durch das entstandene Loch frische Luft in den Raum gelangte, wuchsen die Flammen zur doppelten Größe heran, als hätten sie neue Nahrung erhalten. Der Weiße Knecht schob den Oberkörper des Toten durch den Rahmen, doch die Scherben schlitzten seine Arme auf, und Splitter verhakten sich in seinem Hemd. Sosehr er auch schob und drückte, es ging nicht weiter. Er steckte fest. Er musste den Leichnam wieder zu Boden fallen lassen. Doch als er einen Schritt zurücktrat, erwischte ihn die Feuersbrunst an der Ferse. Heiß schlugen die Flammen an seinem Bein empor, und er trat danach wie nach einem bissigen Hund. Mein Gott, er musste so schnell wie möglich hier raus!
    Zuerst fasste er mit den Armen durch die Fensteröffnung, dann stemmte er sich hoch und schob sich voran, wobei die Glassplitter ihm die Brust aufrissen. Er schrie vor Schmerz, aber er drückte sich weiter vorwärts, bis er das Gleichgewicht verlagern und sich aus dem Fenster fallen lassen konnte.
    Keuchend rappelte er sich hoch, er wollte Josef Herz retten, er konnte ihn unmöglich dort verbrennen lassen. Doch der Blick durch das Fenster zeigte ihm, dass sich die Flammen, die eben

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