Die Inselvogtin
wusste, dass er an der Traurigkeit nicht ganz unschuldig war, auch wenn die wahren Teufel diese Soldaten gewesen waren, die Helene vergewaltigt und ihr dabei noch ein Kind gemacht hatten. Denn er hatte sie damals in Gefahr gebracht. Und nur aus Liebe zu ihm hatte Helene geschwiegen und das Leid über sich ergehen lassen. Also war er bei ihr geblieben, kümmerte sich um den Jungen, den er zu seinem Sohn erklärt hatte, sorgte sich um Helene und bezahlte für die Wohnung, in der sie unter falschem Namen als Eheleute eingezogen waren.
Es war ein enges Dachgeschoss in Dornum. Im unteren Stockwerk hatte eine Steinmetzerei ihre Werkstatt, und der Lärm war an manchen Tagen unerträglich.
Nur selten stahl er sich noch davon, um sich mit seinen Mitstreitern zu treffen, die nach der missglückten Entführung und Hitzkopfs Tod nur noch ein übellauniger Haufen waren. An einigen seiner Männer zweifelte der Weiße Knecht mittlerweile sogar. Er hatte beispielsweise den Verdacht, dass der Straßenkehrer gegen Geld Geheimnisse weitergab. Vielleicht war er auch der Verräter gewesen damals? Doch da sie derzeit nichts planten, konnte auch nichts ausgeplaudert werden.
Wenn dem Weißen Knecht in der dunklen Stube die Decke auf den Kopf zu fallen drohte, ritt er nach Westerbur. Im Haus des Kartenmalers fand er Ruhe und Geborgenheit.
Und er fand Maikea.
Dass dieses kleine Mädchen ihm eines Tages so viel bedeuten würde, daran hatte er bei der Entführung nie geglaubt. Ganz für sich dachte er manchmal, es war gut, dass sie nicht den Fürstensohn erwischt hatten, denn die falsche Geisel war ihm heute um einiges mehr wert.
Maikea war klug. Sie hatte schon in wenigen Monaten das Prinzip der Landvermessung und die Kunst des Kartenmalens begriffen und ging dem alten Juden seitdem eifrig zur Hand. Sie war eine gute Schülerin, und inzwischen konnte man keinen Unterschied mehr zwischen den Arbeiten der beiden erkennen.
Dennoch erschien ihm Maikea auch auf anderen Feldern nach wie vor lernbegierig. Sie wollte alles wissen über die Preußen, über die friesische Freiheit, über das Fürstenhaus und die Ständekriege. Und mit ihren erst siebzehn Jahren stellte sie als Gesprächspartnerin bereits durchaus eine Herausforderung dar. Manchmal diskutierten sie bis in die Nacht hinein. Und doch kam es dem Weißen Knecht dann vor, als wäre er nur ein kurzes Stündchen im Haus am Deich zu Gast gewesen.
»Wohin gehst du schon wieder?«, fragte Helene, als er sich anschickte, die Wohnung zu verlassen. Der Teller mit Grütze stand noch immer unberührt neben dem Bett.»Warst du nicht gestern erst bei ihr?«
»Nun sei still und iss lieber. Du wirst immer magerer, Helene. So kommst du nie zu Kräften.«
»Musst du sie jeden Tag sehen? Ist sie so liebreizend?«
Der Weiße Knecht setzte sich zu ihr auf den Bettrand. Er streichelte ihr über das Haar. Die Locken waren noch immer schön anzusehen, auch wenn sich bereits einige graue Strähnen darin fanden. Sie ist noch zu jung für graues Haar, dachte er, aber es passt zu ihrer Trübsal.
»Es gibt keine andere. Ich fahre zu Josef Herz. Der Mann ist alt, er braucht ab und zu jemanden, der nach ihm schaut.«
»Dafür hat er doch das Inselmädchen.«
»Soweit ich weiß, ist sie für ein paar Tage nach Aurich. Also ist der Kartenmaler allein. Ich werde kurz schauen, ob es ihm gut geht. Zum Abendessen bin ich wieder da.«
Er küsste ihre Wange, dann strich er dem Jungen, der am Boden mit bunten Kieseln spielte, über den Kopf und ging zur Tür. Es war ein tristes Leben mit wenigen Lichtblicken. Und es war auf keinen Fall das, was er sich in jüngeren Jahren einmal vorgestellt hatte, denn mit persönlicher Freiheit hatte das Ganze rein gar nichts zu tun. Sein Pferd stand etwas abseits auf einer Wiese, die dem Steinmetz gehörte. Der Weiße Knecht hatte Glück gehabt mit seinem Vermieter. Als Gegenleistung für die beiden Zimmer und den Weideplatz erledigte er ein paar Handlangerarbeiten für den Meister und half ihm, wenn Steinlieferungen zu holen waren. Manchmal stellte er ihm auch seinen Friesenhengst, den er bei Maikeas Entführung gestohlen hatte, zur Verfügung, da das kräftige und folgsame Tier den anderen Klappergäulen bei weitem überlegen war. Um für sich und seine kleine Familie etwas zum Beißen zu kaufen, schleppte der Weiße Knecht auch hin und wieder in der Mühle Getreidesäcke. Er verdiente dort nicht viel, aber Helene aß ohnehin so gut wie nichts, und für ihn und den Jungen
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