Die Inselvogtin
Aber menschlich hatte ich mehr von Euch erwartet.«
Weert blieb stehen.»Wie bitte?«
»Ich bin Pietist, wie Ihr wisst. Tugenden wie Bescheidenheit, Gottesfurcht, Genügsamkeit und Anstand sind mir ebenso wichtig wie Mut und Intelligenz. Und da habt Ihr bei weitem nicht meine Erwartungen erfüllt. Ich höre, Ihr verkehrt gern in den einschlägigen Etablissements jenseits der Schlossmauern … «
»Ich bin auch nur ein Mann. Und solange ich keine Ehefrau habe … « Weert hob die Arme zu einer unschuldigen Geste.
»Ihr wisst, was ich meine. Immer braucht Ihr zu viel von allem. Stets ist Wein in Eurem Krug und ein süßer Bissen in Eurem Mund. Aber Völlerei ist Sünde! Und wenn mich heute jemand fragen würde, wen ich für würdig halte, eventuell meine Nachfolge anzutreten, dann … « Er räusperte sich ausgiebig und spuckte aus.
»Ihr würdet nicht meinen Namen nennen?« Weert musste sich zusammennehmen, um den alten Kerl nicht anzuschreien.
»Ihr, Weert Switterts, als Kanzler?« Das Lachen war heiser.»Dann würde ja alles, woran ich in den letzten Jahren so hart gearbeitet habe, in kürzester Zeit wieder zunichtegemacht werden.« Er schüttelte den Kopf, als sei diese Vorstellung absurd, wenn nicht sogar lächerlich.»Nein, nein. Die Menschen im Volk sind von Natur aus unmoralisch, sie brauchen eine feste, tugendhafte Hand. Und eine solche habt Ihr nie besessen. Es tut mir leid, Weert Switterts, da mag Euer Ehrgeiz noch so gewaltig sein … «
Das Mitleid nahm Weert ihm nicht ab, trotzdem entschloss er sich, zu schweigen. Ein lautstarker Streit hätte das Ganze eskalieren lassen. Er beließ es daher dabei. Auch wenn diese Sätze des Kanzlers alles über den Haufen warfen, was Weert sich in den letzten Monaten, wenn nicht sogar in den letzten Jahren, aufgebaut hatte. Der Kanzler war nicht mehr ganz bei Sinnen, so schien ihm, die Krankheit hatte ihn benebelt. Aber früher oder später würde sich eine Gelegenheit bieten, diesen kleinen, hässlichen Zweikampf für sich zu entscheiden. So schnell gab ein Weert Switterts nicht auf. In seinem Inneren nämlich kochte es.
Sie schlichen über den Hof, jedenfalls kam es Weert so vor, denn nach jedem dritten Schritt musste Brenneysen stehen bleiben und sich den Schweiß von der Stirn tupfen.
»Wie ist denn die Unterredung mit Eurer alten Bekannten verlaufen?«, fragte er, weniger aus Interesse, wie es schien. Er brauchte das kleine Gespräch, um stehen bleiben und Luft holen zu können.
»Darüber hätte ich mich mit Euch auch noch gern unterhalten «, log Weert.»Ihr plötzliches Auftreten macht mir Sorgen, ehrlich gesagt. Man sollte sich durch ihr mädchenhaftes Auftreten nicht blenden lassen.«
»Ich habe mich ehrlich gesagt gewundert, warum sie sich mit keiner Silbe über die letzten Jahre beschwert hat. Wenn die Fürstin herausbekommt, dass wir ihr Schicksal damals einfach ignoriert haben, dann … « Der Satz blieb aufgrund eines keuchenden Hustenanfalls unvollendet.
»Maikea meint, mit einem ausgeklügelten Plan das Land vor Sturmfluten schützen und somit unserem Herrgott einen Strich durch die Rechnung machen zu können «, gab Weert sich erregt.»Stellt Euch vor, sie hat allen Ernstes von mir verlangt, dass ich ihre Bestallung zur Inselvogtin veranlassen soll.«
Der Kanzler lachte kurz.»Und was habt Ihr letztlich mit ihr verabredet?«
»Sie soll sich für die nächsten Wochen hier bei uns aufhalten. Vielleicht können wir die eine oder andere Anregung ja tatsächlich verwerten – ohne den gotteslästerlichen Anspruch natürlich, Herr über die Fluten zu werden. Ich halte es für klug, sie hier unter Kontrolle zu haben. Wenn sie ihre Ideen gemeinsam mit den Rebellen unters Volk bringt, könnte es heikel werden.«
Sie gingen weiter und passierten die Brücke über den inneren Wassergraben. Die Wachen am Schlosseingang traten respektvoll zur Seite.
»Und Ihr habt das junge Ding in Eurer Nähe, Switterts. Versucht nicht, mir einzureden, dass Euer plötzliches Engagement mehr mit Frömmigkeit als mit den weiblichen Reizen der Vogtstochter zu tun hätte.«
Brenneysen schüttelte den Kopf und grüßte eine Gruppe Hofdamen, die im Schlosshof beisammenstanden. Sie trugen ausladende Reifröcke mit samtenen Blumenranken, und ihre weißen Perücken waren kunstvoll aufgetürmt und mit Federn und Perlen geschmückt. Die Frauen am ostfriesischen Fürstenhof konnten es ohne weiteres mit den Damen in Versailles aufnehmen, vermutete Weert, denn darauf kam es
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