Die Inselvogtin
Balken zu erkennen, und in der Asche mischten sich die Überreste ihrer Kleider, ihrer Arbeiten und ihres Lebens. Zudem war der Weiße Knecht der einzige Mensch, dem sie vertraute, abgesehen von Jantje. Doch ihre Freundin lebte am Fürstenhof, und von dort waren die Mörder gekommen. Sie konnte unmöglich in Aurich auftauchen.
Viel wusste Maikea nicht vom Weißen Knecht, nur, dass er mit Helene und ihrem Kind in Dornum lebte. Unter falschem Namen, aber nicht einmal den kannte sie.
»He, Mädchen!«, rief da einer der Bauern hinter ihr her. »Wie ist überhaupt dein Name? Und was sollen wir machen, wenn wir doch noch etwas Wertvolles finden?«
Maikea drehte sich nicht um. Sie wusste, den Anblick würde sie nicht noch einmal ertragen. Lieber schaute sie geradeaus, den Deichkamm entlang, dessen Ende sich im Horizont verlor. Sie lief Richtung Westen, der tief stehenden Sonne entgegen. Ihre Füße taten weh, denn sie hatte gestern Abend und heute bereits den langen Weg von Aurich hierher zurückgelegt und die Nacht in einem abgelegenen Heuschober verbracht. Aber die Müdigkeit und die wund gelaufenen Sohlen schmerzten nicht so sehr wie ihr Herz.
Dornum lag südwestlich von hier. Also folgte Maikea dem Deich und würde, sobald sie die Umrisse der Dornumer Norderburg ausmachen konnte, wieder weiter ins Landesinnere gehen. In Gedanken wanderte sie die Linien auf den Karten nach, die sie fast auswendig gelernt hatte in den letzten Jahren. Dieses Wissen war jetzt ein unbezahlbares Erbe, das Josef Herz ihr vermacht hatte. Sie würde ihren Weg finden, selbst wenn das Leben sie in ein unüberschaubares Chaos stürzen ließ.
Zu ihrer Linken sah Maikea zwischen Himmel und Erde die sanften Erhebungen der Inseln Baltrum und Norderney. Das Wattenmeer lag fast trocken zwischen ihr und den Eilanden, doch wenn sie genau hinschaute, erkannte sie, wie die See dieses Stückchen Land bereits wieder zurückeroberte. Schmale Rinnsale plätscherten heran, füllten die verästelten Muster im grauen Sand, wurden breiter und mutiger und spülten schon die ersten Muscheln von der Sandbank in den Priel. Sie konnte der Flut zusehen, wie sie dort jenseits des Deiches alles veränderte.
Als Maikea sich sicher war, dass der zierliche Glockenturm, den sie schließlich von weitem sehen und hören konnte, zur Dornumer Silhouette gehörte, warf sie einen letzten Blick auf das Meer. Es war inzwischen eine spiegelnde Fläche, auf der die landenden Möwen feine Wellenringe hinterließen.
Es war schon später Abend, und die Dornumer Gassen lagen vereinsamt da. Nur ein paar Männer torkelten gerade aus einer Schankwirtschaft. Sie sahen zwar nicht so aus, als könnten sie eine große Hilfe sein, doch irgendwie musste Maikea das Haus des Weißen Knechtes ja finden.
»Entschuldigt! Ich suche einen Mann … «
»Kannst mich haben!«, brüllte einer, der nicht mehr gerade stehen konnte.
Maikea zeigte sich ungerührt.»Es ist ein Freund von mir, vielleicht kennt Ihr ihn? Er hat hellblondes Haar, dunkle Augen und reitet auf einem schwarzen Friesenhengst.«
»Nicht auf dir?«, fragte der Witzbold und bewegte seine Hüfte vor und zurück.
Maikea seufzte. Es war wahrlich keine gute Idee gewesen, diese Männer zu fragen. Sie ging eilig weiter.
»Hey! Bin ich schon so besoffen, dass ich eine Engelserscheinung habe?«, lallte ein weiterer und zeigte auf Maikea. Vom Lachen der anderen angestachelt, kam der Mann wankend auf sie zu.
»Darf ich dich anfassen, du Himmelsgestalt? Nur einmal an deinen Busen grapschen? Das würde mich unsterblich machen!« Die Spucke lief ihm aus den Mundwinkeln, und er leckte sie fort.
Keine Frage, der Kerl war sturzbetrunken und seine Kumpane keinen Deut nüchterner. Maikea wechselte zur anderen Straßenseite, lief möglichst eng an der Hausmauer entlang und beschleunigte den Schritt.
Doch trotz des Bieres war der Verfolger schneller und bekam eine Falte ihres blauen Kleides zu fassen.
»Sie ist echt! Aus Fleisch und Blut! Herr im Himmel!« Mit einem Ruck zog er sie an sich.
Maikea versuchte, ihn zur Seite zu schieben, und die plötzliche Angst, diesen Männern ausgeliefert zu sein, stärkte sie. Doch ihre Kraft reichte nicht, sich von ihm zu befreien.
»Lass mich los, du widerlicher Kerl!« Sie trat nach ihm und versuchte, mit dem Knie in seine empfindlichen Leisten zu stoßen, aber das Kleid machte sie unbeweglich, und sie verlor beinahe das Gleichgewicht.
»Seht euch diese wilde Stute an «, grölte einer aus der Gruppe, dem
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