Die Inselvogtin
die Augen fast aus dem Kopf fielen. Jetzt rotteten sich die Männer zusammen.
Maikea spürte ihren Herzschlag bis zu den Schläfen. War sie in eine Falle geraten? Hastig blickte sie sich um, es gab keine Lohne, in die sie hätte flüchten können, abgesehen davon war der Griff des Lüsternen ohnehin zu fest. Selbst als sie ihm die Fingernägel in den Unterarm krallte, ließ er nicht locker.
»Hilfe!«, schrie sie.»Hört mich jemand? Hilfe!« Doch kein Fenster wurde aufgestoßen, und niemand kam herbeigerannt. Die Türen der umliegenden Eingänge blieben geschlossen. Die Stadt schien zu schlafen bis auf dieses halbe Dutzend versoffener Kerle, die sich Maikea zum Opfer ausgesucht hatten.
»Bitte lasst mich!«
»Halt die Schnauze, Engelchen. Heb lieber deine Röcke nach oben. Dann geht es schneller!«
Der Kerl, der sie mit beiden Händen festhielt, grinste breit und zeigte seine braunen Zähne, während ein anderer bereits hastig den Gürtel seiner Hose zu öffnen versuchte. Plötzlich zuckte der Mann jedoch zusammen. Sein Blick wurde glasig, der Kopf verschwand zwischen den Schultern. Etwas hatte ihn auf den Scheitel getroffen. Er stürzte nach hinten, und Maikea sah Blut in seinem Haar. Keine drei Ellen weiter plumpste ein Stein auf die Straße, ein großer Stein.
»Verdammt!«, schrie jetzt einer der Männer und hielt sich schützend die Arme über den Kopf. Die nächsten Brocken flogen herab wie Geschosse und trafen die Betrunkenen an Armen und Oberkörpern. Einer bekam den Stein mitten ins Gesicht und jaulte auf.»Haut ab, Leute!«, rief er.»Die steinigen uns!«
Stolpernd stoben Maikeas Angreifer auseinander und verschwanden links und rechts in den Straßen. Drei oder vier weitere, zielsicher geworfene Steinladungen trieben ihre Flucht voran. Dann war Ruhe. Nur ein Hund bellte weiter hinten.
Maikea horchte in sich hinein. Ihr Atem ging laut, ihr Puls pochte, die Angst rauschte noch durch ihre Adern, und sie brauchte einige Sekunden, bis sie wieder zu sich kam und verstand, dass sie gerettet worden war. Als sie nach oben blickte, schlossen sich direkt über ihr eilig zwei Fensterläden.
Sie betrachtete das Haus, an dessen Mauer sie sich in ihrer Panik gedrückt hatte, eingehend. Auf einem verschlungenen Wappen neben dem Eingang waren vier Winkelmesser zu erkennen. Sie befand sich vor der Werkstatt eines Steinmetzen.
Maikea erinnerte sich daran, dass der Weiße Knecht manchmal geklagt hatte über den Lärm, der in seinem Haus herrschte. Und war nicht oft ein seltsamer Staub in seinem Haar und auf seinen Schultern gewesen? War sie vielleicht geradewegs vor dem richtigen Haus angekommen?
Gern hätte Maikea nach ihm gerufen, doch sein Name war ihr unbekannt. Also lief sie ein Stück weiter und entdeckte einen Seiteneingang, hinter dem eine steile Treppe nach oben führte.
»Ist hier jemand?«, fragte sie vorsichtig. Leise konnte sie das Singen eines Kindes hören. Vielleicht war es Helenes Sohn, von dem der Weiße Knecht erzählt hatte.
Maikea wurde mutiger und ging die Stiege hinauf. Das obere Stockwerk war düster wie die Nacht, denn alle Fensterläden waren geschlossen, und keine Kerze brannte. Aus einem Türrahmen fiel ein wenig Licht, und Maikea entdeckte, dass die Tür nur angelehnt war.
»Hallo? Ich bin es, Maikea Boyunga. Darf ich hereinkommen?«
Eine Katze huschte durch den Spalt nach draußen.
Mit pochendem Herzen öffnete Maikea die Tür.
In einer Ecke konnte sie ein zerwühltes Bett erkennen und eine kauernde Gestalt darauf. Die Frau zog sich die Decke halb vor das Gesicht. Ihre Locken erinnerten Maikea an das Küchenmädchen aus dem Waisenhaus in Esens.
»Helene? Helene, warst du es, die mich gerettet hat?« Als sie zum Bett hinüberging, stolperte sie über den Wirrwarr am Boden. Leere Teller, ein Paar Schuhe, ein Korb mit Steinen, alles lag wild herum. Es roch nach kaltem Essen und ungewaschenen Körpern. Hier sollte der Weiße Knecht hausen?
»Du musst leise sein «, flüsterte Helene.»Der Junge soll wieder einschlafen! Der Lärm auf der Straße hat ihn geweckt. Nun singe ich ihm ein Schlaflied «, flüsterte Helene.
Maikea wollte sich zu Helene hinabbeugen, sie kurz umarmen und ihr für die Rettung danken, doch die Frau schob sich zurück, an die hinter ihr liegende Wand.
»Ich danke dir! Du hast diese finsteren Gestalten vertrieben. Einen Moment später, und … «
» … und es wäre dir so ergangen wie mir damals vor fünf Jahren.«
Maikea wusste nicht, was sie sagen sollte.
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