Die Inselvogtin
wir sollten jemanden in unsere Gewalt bringen, der ihm viel bedeutet.«
15
I mmer, wenn ein neues Jahr begann, wurde Wilhelmine rührselig. Stets drängten sich all die unerledigten Dinge und unerfüllten Wünsche der Vergangenheit in ihr Bewusstsein. Dann kam es ihr vor, als wären die zurückliegenden Monate nur ausgehöhlt gewesen und sinnlos verstrichen. Aber an diesem Neujahrstag im Jahre 1735 kam ihr das Leben besonders hoffnungslos vor.
Sie war weder glücklich noch geachtet und vor allem weit davon entfernt, schwanger zu sein. Die Dienstboten versuchten, sich nichts anmerken zu lassen, aber Wilhelmine war sich sicher, sie tuschelten über ihre Herrin, die trotz Liebestropfen und Kerzenschein stets allein im großen Bett lag. Der Fürst sprach kein Wort mehr als nötig mit ihr, selbst bei den Mahlzeiten schwiegen sie sich an. Ihre Schwiegermutter, die ja immerhin Wilhelmines Tante war, hatte Besseres zu tun, als Konversation zu pflegen, sie plante ihren Umzug auf den Witwensitz in Berum. Und ihre Hofdame Jantje – das verstand sich von selbst – war die Letzte, mit der sie reden wollte. Auch die Männer, die am Hof das eigentliche Sagen hatten und die Geschicke des Landes leiteten, legten keinen Wert auf die Meinung der jungen Fürstin.
Es schien Wilhelmine, als sei sie mit ihrem Umzug nach Ostfriesland gestorben. Sie vermisste ihre Familie, ihre alten Freunde und Bediensteten in Bayreuth, die Konzerte und Spaziergänge, das warme Wetter und alles, was ihr Dasein zuvor ausgemacht hatte. Hier war sie tot. Nur ihr Körper blieb weiterhin lebendig, stand wie mechanisch morgens auf, aß und trank, atmete und bewegte sich.
Nicht einmal die großen Festtage rissen sie aus ihrer Schwermut.
Auch heute fiel es ihr schwer aufzustehen, der Kopf düster und schmerzend vom Wein, den sie gestern getrunken hatte, um besser einschlafen zu können. Heiße Milch mit Honig reichte da schon lange nicht mehr aus.
Vor dem Fenster spielten die Trompeter ihr drittes Stück. Klar und hell schallte die Musik in das Schlafgemach der Fürstin. Jantje hatte schon vor einer Stunde die Vorhänge zur Seite gezogen und die Fenster geöffnet. Doch Wilhelmine fand den Neujahrsmorgen zu früh, die Luft zu kalt und das Leben zu verdrießlich, um endlich aufzustehen.
»Eure Durchlaucht, jetzt wird es wirklich Zeit. In einer Stunde werdet Ihr in der Kapelle erwartet. Der Superintendent wird predigen und den Segen austeilen. Da könnt Ihr nicht fehlen.«
»Sag ihnen, ich sei krank.«
»Dann werden sie den Arzt schicken, und der wird feststellen, dass Ihr kerngesund seid.«
»Das ist mir egal. Geh weg, ich will wieder allein sein.«
Wilhelmine drehte sich zur anderen Seite und nahm nur mit den Ohren wahr, dass Jantje noch einen Moment abwartete, bevor sie mit einem Seufzen den Raum verließ. Wilhelmine fiel in letzter Zeit immer mehr auf, wie dick und schwerfällig ihre Hofdame geworden war, rund wie ein Ball. Vielleicht hatte sie nur gemeinsam mit Carl Edzard zu viel Zuckerwerk genascht, doch es gab noch eine andere Möglichkeit. Aber nein, so weit wollte Wilhelmine heute Morgen noch nicht denken.
Sie griff nach dem Weinkrug, der neben ihrem Bett stand. Er war fast leer. Die letzten Tropfen schmeckten abgestanden und sauer. Kurz darauf fiel Wilhelmine in einen traumlosen Schlaf und wurde erst durch ein hartes Klopfen wieder geweckt. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es inzwischen sein mochte, nur an der Helligkeit vor den Fenstern erkannte die Fürstin, dass die Andacht zumindest schon vorüber sein musste.
Als Jantje hereinkam, fuhr Wilhelmine sie an:»Was willst du schon wieder? Ich hatte doch ausdrücklich … «
»Der Geheimrat ist hier, Durchlaucht. Er möchte Euch sprechen.«
»Hast du ihm nicht gesagt, dass ich mich schlecht fühle?«
»Natürlich habe ich das. Aber er bestand darauf, selbst zu kommen. Soll ich Euch schnell ein Kleid holen?«
Langsam setzte sie sich auf, und Jantje schob ihr ein Kissen in den Rücken. Warum war dieses Mädchen immer so flink und stets darauf bedacht, es ihr recht zu machen? So hatte sie noch nicht einmal einen Grund, ihre Laune an Jantje auszulassen.»Ich werde mich heute nicht einkleiden, weil es mir miserabel geht. Wenn der Geheimrat etwas von mir will, dann soll er eintreten.«
Jantje schaute sie mit großen Augen an.»Eure Durchlaucht, Ihr habt das Haar offen und tragt ein Nachthemd!«
Wilhelmine winkte ab, es war ihr herzlich egal.»Dann lass uns beide bitte allein!«
Kurz
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