Die Inszenierung (German Edition)
Erinnerst Du Dich? Er ist mir wieder erschienen. Allerdings fast unsichtbar diesmal. Wir standen alle fühlbar nahe bei einander im Dunkel, Ursula, Ruth, Judith und ich. Vielleicht noch andere. Ich war nur an Eli interessiert. Ich griff nach ihm. Gleichzeitig schimpfte ich grob. Ursula hatte gesagt, sie hätten leider vergessen, die Glühbirnen auszuwechseln. Nicht einmal das Einfachste geht hier noch, Glühbirnen einzuschrauben, die Licht geben! Schrie ich. Und griff und griff nach Eli und an ihm nur an die Stelle, auf die es mir ankam, sein Geschlechtsteil. Und erreichte es auch. Und bei der leisesten Berührung: aus der Traum.
Lieber Augustus, so wirkt nach, was vor über zwanzig Jahren angefangen hat. Ich teile Dir das mit, weil da – und das ist für Dich so wichtig wie für mich –, weil da deutlich wird, wie sehr die Seele vom Körper lebt. Immer wieder erscheint mir Eli im Traum. Der erste Eli-Traum ereignete sich vor über zwanzig Jahren in Haifa. Es war unsere Hochzeitsreise. Die führte nach Israel. Auch zu Ursulas älterer Schwester Ilse, die seit 10 Jahren dort lebte, übergetreten war zum jüdischen Glauben, Hebräisch gelernt und einen anderen Namen angenommen hatte und dort als Yael, in Tel Aviv, Touristen führte. Yad Vashem zum Beispiel. Ursula bewundert Ilse.
Geständnis hatte ihr Vater überschrieben, was er hinterlassen hatte. Ich durfte das nicht lesen. Aber dass Ursula Jura studierte, dass Ilse nach Israel auswanderte, dass Ursula sich als Anwältin spezialisierte auf Tötungsdelikte, das war alles die Folge des Geständnisses ihres Vaters. Er war Offizier der Waffen-SS gewesen. Mehr wurde mir nicht mitgeteilt. Aber dass mir nicht mehr mitgeteilt wurde, teilt mit, was da nicht mitgeteilt wurde.
Dann im Brown Hotel die US-Familie mit ihrem 14-jährigen Sohn Eli und der 16-jährigen Schwester Julie. Ursula war in einer andauernden Erregung. Was ihr Vater in Russland getan hatte, bleibt unfassbar. Das sagte sie. Wir seien in Israel, sagte sie, um zu erfahren, dass es für Deutsche keine zwei Meinungen über Israel geben könne. Wir hätten versucht, ein Volk zu ermorden. Das sei uns auch fast geglückt. Angesichts dessen sei es nicht möglich, sich Israel gegenüber urteilend zu verhalten. Eine Schuld, die von keinem Paragraphen erreichbar ist, erlaubt kein politisches Mehr oder Weniger. Das Verhältnis der Deutschen gegenüber Israel muss absolut loyal sein. Absolut abhängig. Absolut unselbständig. Absolut dienlich dem Interesse Israels und nichts sonst. Jedes andere Verhalten diene der Verfinsterung unserer Schuld. Einmal fiel der Ausdruck: die deutsche Bestie. Das ist Ursula. Das ist die Praxis ihrer Schwester. Eine vollkommen sachlich bleibende Radikalität. Ich war nie versucht, mich diesem Denken und dieser Praxis zu entziehen. Ich habe das aktuelle Meinungs-Techtelmechtel zu dieser Frage immer so abwegig gefunden wie Ursula. Ursula war in allem so. So anspruchsvoll. So entschieden. Dann auch mir gegenüber.
Damals aber, nur das wollte ich Dir mitteilen, träumte ich zum ersten Mal von Eli, den ich tagsüber endlos mit seiner Schwester Volleyball spielen sah. Ich träumte, Ursula habe ihn erstochen, ich sei Zeuge gewesen, habe sie aber nicht verraten. Das war der erste Traum, den ich Ursula verschwieg. Wir hatten die Gewohnheit, uns unsere Träume mitzuteilen. Als wir längst zurück waren, erlebte ich, wie jede Sekunde, in der ich Eli erlebt hatte, in mir weiterwirkte. In Träumen also bis heute. Ein solcher Schock war es, diesen Vierzehnjährigen zu sehen. Ich war durch und durch sentimental und sah ihn, wenn er den Ball schlug, Orchester dirigieren. Ich erlebte, dass ich zwei Leben zu leben hatte, von da an.
Ich bin anfechtbar. Durch und durch. Ja, einundfünfzig jetzt. Und mein einziges Pfund, mit dem ich noch wuchern kann: Platon.
Gestern passierte Folgendes: Ich im Boot von Herrn Dickinson, Historiker, er nimmt mich mit zum Krabbenfang. Auf dem Chester River. Ein Fluss wie ein länglicher See mit vielen Buchten. Der Fluss sei hier so breit wie der Rhein bei Bonn, sagt Frau Dr. Ferner, die mit uns im Boot ist. Ihr Mann Lion liegt 100 Meilen südlich in Salisbury zur Rehabilitation. Er hat unter anderem ein Lungenemphysem. Sie raucht eine Zigarette nach der anderen. Und jeden zweiten Tag fährt sie die 100 Meilen nach Süden, um Lion zu besuchen und zu füttern. Fragen Sie mal, wer diese Halbinsel kennt! Jeder kennt Long Island oder Cape Cod, aber diese gewaltige, nicht enden
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