Die Intrige
genäht werden«, sagte Chip.
Jonas verstand immer noch nicht.
»Die industrielle Revolution hat noch nicht stattgefunden. Es gibt noch keine mechanischen Webstühle oder Nähmaschinen«, fügte Alex hinzu, ehe er fortfuhr, vor sich hinzumurmeln: »Und ich weiß, dass es nicht ›Auch du, Brutus?‹ ist, weil das aus
Julius Cäsar
stammt.«
»Ach so«, sagte Jonas und überlegte, dass es erst zwölf Stunden her war, seit die mysteriösen Eindringlinge versucht hatten, Chip und Alex aus dem Fenster zu werfen. Wenn ein Heer von Näherinnen die ganze Nacht durcharbeitete, schafften sie es vielleicht, in dieser kurzen Zeit eine sieben Meter lange Samtschleppe herzustellen. Aber Jonas konnte sich nicht vorstellen, dass die Mörder nach getaner Arbeit in einen Saal voller Näherinnen stürmten und verkündeten: »Also dann! Der Auftrag ist erledigt! Fangt an zu nähen!«
Und die maßgeschneiderten Krönungskleider für Chip würden auf keinen Fall seinem Onkel passen. Dieser Onkel, oder jedenfalls der Mann, den Jonas unter einem purpurnen Umhang gesehen hatte, war größer und muskulöser als Chip.
Erwachsener.
»Glaubst du, dass er alles von langer Hand geplant und vorbereitet hat?«, fragte Jonas.
»Das muss er!«, fauchte Chip. »Aber wie hat er die anderen dazu gebracht, mitzumachen? Die Adligen und die Ritter, die ihn auf dem Krönungszug begleiten … die Menschen, die ihm in der Menge zujubeln …«
Schmerz und Trauer standen jetzt in seinem Gesicht, nicht mehr nur verletzter Stolz und Empörung.
»Kein Wunder, dass du ihm die Krone wegnehmen wolltest«, gab Jonas widerwillig zu.
»Ja. War wohl nicht die beste Idee, was? Jedenfalls nicht vor Hunderten von Menschen«, sagte Chip. »Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Irgendwie war ich nicht ich selbst dort draußen. Es fühlte sich fast so an wie in der Nähe der Marker letzte Nacht. Ich habe überhaupt nicht gedacht wie ich selbst.«
»Seltsam«, sagte Alex, der sich endgültig von Shakespeare verabschiedet hatte. »Ich habe mich dort draußen auch nicht gefühlt wie ich selbst. Aber bei mir war es eher so, dass, äh, dass ich meine Mutter vermisst habe.«
Er klang verlegen.
»Welche? Die Königin aus dem fünfzehnten Jahrhundert oder die Shakespeare-Lehrerin aus dem einundzwanzigsten?«, fragte Katherine.
Alex blieb keine Zeit, zu antworten, denn der Krönungszug war an der Schwelle der Kathedrale angelangt. Die königlichen Fanfaren erschallten ohrenbetäubend und der Jubel der Menge war überwältigend.
»Du hast gesagt, du hättest einen Plan?«, sagte Chip.
Jonas beugte sich zu ihm, um ihm ins Ohr zu flüstern.
Chip lächelte.
»Das mache ich liebend gern«, sagte er.
Siebzehn
Jonas hatte kaum Zeit, seinen Plan auch Alex und Katherine zuzuflüstern, als die Prozession auch schon auf ihren dunklen Gang zuströmte.
»Das ist perfekt!«, sagte Chip. »Sie gehen zuerst ins Heiligtum. Es ist gleich dort drüben. Kommt mit!«
Er lief auf eine Öffnung zu, die sich einige Meter entfernt zwischen den Säulen auftat. Es war ein Glück, dass Jonas, Katherine und Alex ihm schnurstracks folgten, denn im nächsten Moment begannen die königlichen Pagen auf dem Boden breite Lagen edlen Tuchs auszubreiten, über das die königliche Prozession schreiten sollte. Ein Stoffballen landete genau dort, wo die vier gestanden hatten.
»Aus Respekt vor den Heiligen ziehen sie die Schuhe aus«, erklärte Chip. »Verrückt, was?«
Durch den Eingang des Heiligtums betrat er einen grottenartigen Raum mit einer Reihe Statuen und einem Altar am vorderen Ende.
»Wir können uns hinter die Statuen stellen, wenn sie kommen«, sagte Chip. »Richard wird nach vorngehen und niederknien, alle anderen bleiben hinter ihm.«
Jonas tauchte zwischen zwei Statuen ab, deren steinerne Gesichter beide den gleichen grimmigen Ausdruck aufwiesen. Sie glichen eher Soldaten als Heiligen, fand er.
»Hi, wie geht’s?«, murmelte er den Statuen zu. »Wisst ihr, dass einem von euch die Nase fehlt?«
Katherine bedachte ihn mit einem Blick, der klar besagte: Wie kannst du nur in solch einem Augenblick Witze machen? Jonas zuckte die Achseln.
Die königliche Prozession zog ein. Richard, der Herzog von Gloucester oder König von England oder was immer er sein mochte, trug zweifellos die kostbarsten Gewänder. Selbst im schwachen Kerzenlicht schien alles an ihm zu glitzern. Nur eine kleine Zahl Adliger folgte ihm in das Heiligtum, vermutlich die ranghöchsten Würdenträger. Der
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