Die Intrige
Dächer der Nachbarhäuser, die breite Straße, in der er so oft Fahrrad gefahren war, die Briefkästen, die Garagentore und Abwasserleitungen. Und wenn er nicht sehr aufpasste, würde er gleich losplappern, wie sehr ihm der Hydrant auf der anderen Straßenseite fehlen würde.
Unglaublich, wie kostbar einem alles erscheint, wenn man weiß, dass man es gleich verlieren wird, dachte er. Er fragte sich, ob Richard das in seinen letzten Augenblicken auf dem Schlachtfeld von Bosworth genauso empfunden hatte; ob Chip und Alex sich so gefühlt hatten, als sie ihre Marker, ihr mittelalterliches Leben für immer zurückließen. Eines Tages würde er sie das fragen. Wenn er seinem eigenen Marker begegnet war. Aber jetzt …
»Dann begleiten wir also Andrea Crowell, ja?«, sagte er und versuchte so selbstsicher und zuversichtlich wie möglich zu klingen, als wäre es keine große Sache, in die Vergangenheit zu reisen. »Weiß
sie
denn, was auf uns zukommt?«
»Nein«, sagte HK. »Das weiß eigentlich niemand. Um mit einem berühmten und in meiner Zeit sehr verehrten Philosophen zu sprechen: ›Das ist nicht anders als im normalen Leben. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt?‹«
Moment mal, dachte Jonas. Das habe ich doch gesagt. In Westminster, zu Katherine. Soll das heißen, ich werde später ein berühmter Philosoph? Heißt das, man wird mich verehren?
Ihm blieb keine Zeit, zu fragen.
Nachwort der Autorin
Seit dem fünfzehnten Jahrhundert suchen die Menschen nach einer Antwort auf die Frage, was Eduard V. und seinem Bruder Richard widerfahren ist. Hier sind die Fakten, über die sich alle einig zu sein scheinen:
Der englische König, Eduard IV., starb am 9. April 1483 und sein zwölfjähriger Sohn Eduard wurde zu seinem Nachfolger bestimmt. Die Krönungfeier von Eduard V. wurde anberaumt, fand aber niemals statt. Als gegen die Eltern des Jungen Anschuldigungen bekannt wurden, ernannte man seinen Onkel, den Herzog von Gloucester, zum König und die Krönung fand am 6. Juli 1483 statt.
Eduard und sein jüngerer Bruder verbrachten den Sommer des Jahres 1483 im Tower von London. Dann verschwanden sie.
Schon diesen letzten Satz, »Dann verschwanden sie«, muss ich bewusst vage formulieren, um mich davon abzuhalten, ihn durch Ergänzungen wie »und die meisten Leute glauben …« oder »irgendwann innerhalb der nächsten ein oder zwei Jahre …« aufzufüllen. Die meistenLeute scheinen davon auszugehen, dass die Jungen ermordet wurden – aber war es tatsächlich so? Und wenn ja, wer hat es getan? Wann? Wie? Und warum?
Ich habe mir in diesem Buch große Mühe gegeben, die unumstrittenen Fakten nicht zu verfälschen oder zu verändern. Chips Beschreibung davon, was Eduard V. im Frühjahr des Jahres 1483 erlebt hat, ist aus historischer Sicht so genau wie möglich. (Das Gleiche gilt für seine und Alex’ Darstellung der Essgewohnheiten ihres Vaters, Eduard IV. Ich wette, du hast gedacht, Bulimie sei ein modernes Problem?!) Für mich als Romanautorin ist es ein Glück, dass die historischen Erkenntnisse über Eduard und Richard viele Lücken und zweifelhafte Einzelheiten aufweisen. Damit bleibt mir genügend Spielraum, um meiner Fantasie freien Lauf zu lassen.
Historiker, die über ein Ereignis wie das Verschwinden von Eduard und Richard forschen, suchen nach Berichten von Menschen aus dieser Zeit, die dem Geschehen nahe genug standen, um zu wissen, wovon die Rede war, aber doch nicht so nahe, dass sie zu voreingenommen waren und vielleicht lügen würden. In diesem Fall gibt es keinen perfekten Bericht – zumindest wurde er nie gefunden. Bei meinen Nachforschungen für dieses Buch konnte ich nur darüber lachen, wie oft ich auf Stellen wie diese stieß: »Die Croyland-Chroniken hatten in diesem Punkt sicher recht, irrten sich vermutlich aber …« oder: »Dieser Teil der Geschichtevon Sir Thomas More ist sicherlich richtig, allerdings verwechselt er …« Und wenn ich das eine Forschungswerk hinlegte und ein anderes zur Hand nahm, stellte ich fest, dass der Autor des zweiten Buches das genaue Gegenteil darüber sagte, welches Detail aus welcher Version mit Sicherheit oder wahrscheinlich richtig oder falsch sei.
Jahrhundertelang wurde Richard III. als der Bösewicht der Geschichte dargestellt. In einem berühmten Bericht wird behauptet, ein Mann, der für Richard III. arbeitete, habe Jahre später gestanden, die Jungen auf Richards Befehl getötet zu haben. Doch dieser Bericht wurde praktischerweise während der
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