Die Invasion - 5
Zeit, die Lage zu überdenken, Zeit, das Ausmaß an Feuerkraft zu analysieren, die seine Männer gerade niedermähte, Zeit, wirklich zu begreifen, mit welcher Geschwindigkeit hier nachgeladen wurde und auch wie präzise und weitreichend die Schüsse der Charisianer waren, dann hätte er es wahrscheinlich nicht versucht. Doch er wusste es eben nicht - noch nicht. Und das bedeutete, dass er gerade die einzige, winzige Chance auf einen Sieg ergriffen hatte, die es für ihn gab - oder zumindest hätte geben sollen: Er musste ein offenes Feuergefecht zwischen den corisandianischen Musketieren und Clareyks Gewehrschützen vermeiden. Denn das konnte nur auf eine Art und Weise enden. Stattdessen war seine Chance, seine einzige Chance zum Sieg, seine Männer jetzt gegen die Charisianer anstürmen und in diesem Kampf ihre größere Mannstärke zum Einsatz bringen zu lassen.
Nur, dass er bald schon keine zahlenmäßige Überlegenheit mehr haben wird, dachte Clareyk grimmig.
Gahrvai hatte genau so rasch wie Brigadier Clareyk begriffen, was Mancora beabsichtigte. Doch im Gegensatz zu Mancora befand sich Gahrvai eben nicht mitten in der vordersten Front dieses Desasters, das über seine Armee hinwegbranden würde wie eine Springflut. Gahrvai musste diese Entscheidung nicht mitten auf dem Schlachtfeld fällen, umgeben von Blutvergießen und Gemetzel, von zerfetzten Leichen, von den Schreien der Verwundeten, von dichtem Pulverdampf, der jegliche Sicht raubte. Gahrvai konnte Mancora die Entscheidung nicht vorwerfen, die er getroffen hatte. Denn Gahrvai wusste, dass er, wäre er an der Stelle des Grafen gewesen, vermutlich genau dieselbe Entscheidung getroffen hätte.
Und er wusste, dass diese Entscheidung falsch war.
Barcor hingegen machte keinerlei Anzeichen, in einen Sturmangriff überzugehen. Gahrvai war sich sicher, dass Barcor hier, aus völlig falschen Gründen, genau das Richtige tat. Mancora hingegen, der genau die richtigen Überlegungen angestellt hatte, beging einen katastrophalen Fehler.
»Geben Sie Baron Barcor Signal!«, fauchte er über die Schulter hinweg, ohne den Blick vom Schlachtfeld abzuwenden. »Weisen Sie ihn an, sich sofort zurückzuziehen!«
»Jawohl, Sir!«, stieß einer seiner Adjutanten hervor, und Gahrvai hörte, wie der Holzboden unter den schweren Schritten des jungen Mannes dröhnte, als er zum Signalgast hinübereilte.
Bei diesem ganzen Rauch dort ist die Chance, dass Barcor die Semaphore überhaupt sieht, natürlich nicht einmal eins zu eins, dachte Gahrvai verbittert. Andererseits ist er ... vorsichtig genug, vielleicht ohnehin jeden Moment kehrtzumachen und die Beine in die Hand zu nehmen!
Es war schon viel zu spät, Mancora noch aufzuhalten. Es war jedoch zumindest möglich, dass man wenigstens noch einen Großteil von Barcors Männern würde retten können, wenn man den Baron dazu bewegen konnte, sich aus dem Gelände zurückzuziehen, das für die charisianischen Gewehre im wahrsten Sinne des Wortes ein perfektes Schlacht-Feld darstellte. Die Erkenntnis, dass er, Gahrvai selbst, derjenige gewesen war, der dieses Terrain ausgewählt hatte, das sich so perfekt für die neue Taktik der Charisianer eignete, war für den hohen Militär wie Gift in den Adern - und dass er sich tatsächlich wünschte, einer seiner Kommandeure sei feige genug, vor dem Feind einfach fortzulaufen, war bitter wie Galle. Und doch war es die Wahrheit. Mit steinerner Miene beobachtete Gahrvai, wie Mancoras Infanterie geradewegs in den entsetzlichen Mahlstrom des charisianischen Gewehrfeuers hineinstürmte.
Warum?, ging es ihm durch den Kopf. Warum tust Du uns das an, Gott? Wir sind doch nicht die Schismatiker, die versuchen, Deine Kirche zu zerstören - das sind die da drüben! Also warum lässt Du zu, dass ein guter Mann, ein guter Kommandeur, seine Truppen geradewegs in einen solchen Fleischwolf hineinführt, während ein Schwachkopf wie Barcor nicht einmal vorrücken lässt?
Gahrvai erhielt keine Antwort. Er wusste selbstverständlich, dass er nie eine Antwort erhalten würde. Seine Augen wirkten wie aus Stein gemeißelt, als er begriff, dass er sich wahrscheinlich gezwungen sehen würde, Barcor nach dieser Schlacht zu belobigen - vorausgesetzt, Gott und die Erzengel waren nicht gnädig genug, den Baron sterben zu lassen! -, statt ihm das Kommando zu entziehen, wie er das für seine Ängstlichkeit eigentlich verdient gehabt hätte.
Graf Mancoras Infanteristen stürmten vorwärts.
Wie es die Hand voll
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