Die Invasion - 5
sah, wie Barcors Flanke eifrig zurückwich. Er zweifelte ebenso wenig wie Gahrvai daran, warum Barcor das tat. Doch was auch immer das eigentliche Motiv für die Befehle des Barons gewesen war, es war genau das Richtige. Er würde natürlich trotzdem im Feuer der Charisianer gewaltige Verluste erleiden. Rückzug war jedoch das Einzige, was Gahrvais Vortrupp die Chance gab, diesem Desaster zumindest teilweise zu entrinnen. Und wenn es erforderte, Doyals fünfunddreißig Geschütze und sechshundert Männer zu opfern, um fünftausend Mann zu retten, dann war das immer noch ein geradezu lächerlich geringer Preis.
Abgesehen davon, dachte Doyal mit einer Art Galgenhumor, habe ich ohnehin schon so viele Drachen und Pferde verloren, dass ich sowieso nicht einmal mehr die Hälfte meiner Batterie hier würde fortschaffen können.
Was er jetzt von den Männern verlangen würde, die er ausgebildet und angeführt hatte, brach ihm fast das Herz. Dennoch holte er tief Luft und wandte sich an den Kommandeur seiner rechten Flankenbatterie. Der Major, der noch vor einer halben Stunde das Kommando über diese Batterie innegehabt hatte, war tot; der Captain, der noch vor zehn Minuten sein Stellvertreter gewesen war, verwundet. Das Kommando über eine ganze Batterie war einem Lieutenant zugefallen, der nicht älter sein konnte als zwanzig. Das Gesicht des jungen Mannes war kalkweiß, obwohl das unter der dicken Schicht Pulverruß kaum zu erkennen war. Er blickte Doyal jedoch fest in die Augen.
»Schwenken Sie Ihre Batterien herum, um unsere Flanke zu decken!«, befahl Doyal und rang sich ein Lächeln ab. »Es sieht ganz so aus, als würden wir schon bald ein wenig einsam werden.«
April,
im Jahr Gottes 893
.I.
Der Tempel und Madame Ahnzhelyks
Haus Zion, die Tempel-Lande
Die beiläufigen Gespräche im Besprechungssaal des Hohen Rates waren deutlich gedämpfter als sonst.
Der Saal selbst war für die nachmittägliche Zeremonie akribisch vorbereitet. In den Überlieferungen hieß es, der Erzengel Langhorne persönlich habe mit seinen Gefährten in eben diesem Saal gesessen. Die gewaltige, herrlich detaillierte Karte der Welt - vierfach übermannshoch -, die in eine der Wände des Saales eingelassen war, machte diese Aussage außerordentlich glaubwürdig. Entlang einer anderen Wand hingen Porträts zahlreicher Großvikare aus längst vergangenen Zeiten. Der Fußboden, gepflastert mit unzerstörbarem, mystisch versiegeltem Lapislazuli, ebenso wie der Tempel selbst, war von kostbaren Teppichen aus Harchong, Desnairia und Sodar bedeckt. Eine ganze Heerschar von Dienern hatte den gesamten letzten Fünftag damit verbracht, zu wischen, zu kehren und zu polieren, und so hatten sie die übliche Herrlichkeit des Saales in einen wahren Inbegriff der Pracht verwandelt.
Die Vikare in ihren glitzernden Gewändern saßen in den geradezu verschwenderisch luxuriösen, herrlich bequemen Sesseln und fügten sich erstaunlich gut in den gewaltigen, prächtigen Raum ein, in dem sie sich versammelt hatten. Juwelen blitzten und leuchteten, goldene Stickereien glänzten, und auf den Kopfbedeckungen der Priester funkelten Edelsteine. Sanft zirkulierte die Luft im Saal, gänzlich geräuschlos und perfekt angemessen temperiert; ein weiteres der zahlreichen mystischen Wunder des Tempels. Wohlig war es hier und das, obwohl immer noch Schnee das Nebengebäude des Tempels umwirbelte, in dem dieser Saal lag. Perfektes, sanft glimmendes Licht strömte von der hohen Decke des Saales herab und erhellte jedes Detail der unschätzbar wertvollen Kunstwerke und der üppigen Kleidung aller hier Versammelten. An der schmalen Seite des Saales (auch wenn ›schmal‹ in diesem gewaltigen Raum ein sehr relativer Begriff war) war ein langes Buffet aufgebaut. Unablässig eilten Diener mit Weinkaraffen umher und sorgten dafür, dass kein Vikar Grund zu der Klage hatte, über sein Glas sei eine plötzliche Dürre hereingebrochen.
Doch allen Behaglichkeiten in diesem Saal zum Trotz und auch trotz all der Pracht, die nur erneut die Herrlichkeit und die Macht Gottes unter Beweis stellte, herrschte in diesem Saal doch sonderbar angespannte Stimmung. Alle Anwesenden hatten die Stimme gesenkt; einige flüsterten sogar. In manches Weinglas musste deutlich häufiger nachgeschenkt werden, als das sonst zu diesem Anlass üblich war.
Zahmsyn Trynair saß in dem Sessel, der stets dem Kanzler des Rates der Vikare vorbehalten war, unmittelbar zur Rechten des leicht erhöhten
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