Die Invasion - 5
der geflüsterten Gespräche. Auch das war ungewöhnlich. Unter normaleren Umständen wären zumindest einige dieser Gespräche sogar noch während der Ansprache selbst fortgeführt worden. Schließlich hätte jeder Vikar bereits eine Abschrift des Redetextes erhalten. Einige mochten sich vielleicht bislang nicht die Mühe gemacht haben, diesen Text auch zu lesen. Er würde aber zumindest in ihren Arbeitszimmern auf sie warten, sodass man die Ansprache lesen konnte, wenn man eben beizeiten dazu käme. Abgesehen davon wusste normalerweise doch sowieso schon ein jeder, was darin gesagt würde, selbst wenn er noch keine Abschrift erhalten hatte.
Doch an diesem Tag war es anders. Niemand kannte bislang den Text der diesjährigen Ansprache - zumindest niemand außer dem Großvikar, Trynair, den anderen drei Mitgliedern der ›Vierer-Gruppe‹ und einigen von deren Privatsekretären - jenen, denen diese mächtigen Kirchenmänner am ehesten vertrauten. Und die Gerüchte darüber, was wohl darin dargelegt würde, hatten im gesamten Vikariat die Runde gemacht, nachdem jeder neu eintreffende Bericht nur noch mehr betonte, dass Charis der Kirche den Fehdehandschuh vor die Füße geschleudert hatte.
Erst vor drei Fünftagen war die Nachricht über die Hochzeit Caylebs von Charis und Sharleyans von Chisholm im Tempel eingetroffen, kurz nachdem die ersten Berichte eingegangen waren, was in Ferayd geschehen war. Diese Nachricht hatte das Vikariat in seinen Grundfesten erschüttert. So lange nämlich hatte es gedauert, bis die Meldung über die Eheschließung und die Gründung dieses neuen Kaiserreichs Charis den Tempel erreicht hatte. Selbst wenn man das winterliche Wetter berücksichtigte, war diese Verzögerung ein weiteres Zeichen dafür, wie sehr die Macht der Kirche bedroht wurde. Die lückenlose Kette der Tempel-Kuriere, die normalerweise diese Nachrichten über den ›Kessel‹ hinweg zu den Semaphorentürmen befördert hätten - winterliche Stürme hin oder her -, war zum ersten Mal in der Geschichte von Safehold durchbrochen. Etwaige Schreiben, in denen Hochzeit und Reichsgründung geschildert und genauestens analysiert worden wären, hatten weder Bischöfe noch Priester je abgefasst. Denn die Männer, die in den betreffenden Ländern diese Ämter jetzt bekleideten, hielten nicht etwa Zion und dem Tempel die Treue, sondern eben Cayleb und Sharleyan.
Das an sich wäre schon ernüchternd genug gewesen. Zu erfahren, dass sich Chisholm aus freien Stücken Charis angeschlossen hatte, um sich Mutter Kirche entgegenzustellen, ging schon über ›beunruhigend‹ hinaus: Das war zutiefst erschreckend. In vielerlei Hinsicht indes war die Nachricht über die Hinrichtung von sechzehn geweihten Priestern noch schlimmer gewesen. Denn selbst diejenigen, die insgeheim der Ansicht waren, erst die ungeschickte Führung der ›Vierer-Gruppe‹ habe diese Charis-Krise herbeigeführt und vorangetrieben, mussten nun tatenlos mitansehen, wie ein gänzlich neues Reich entstand, das beizeiten unweigerlich seinen Platz neben all den anderen großen Reichen einnehmen würde. Und es ging hier um ein Reich, das nicht nur durch Eroberung geschaffen wurde oder durch dynastische Eheschließungen. Vielmehr bestand seine Grundlage darin, Mutter Kirche die Autorität abzusprechen und ihr zu trotzen - und eben diesen Trotz hatte das neue Reich mit brutaler Endgültigkeit in Ferayd noch einmal betont. Dieses neue Reich hatte sich bereits das Fürstentum Emerald einverleibt, und innerhalb der nächsten Fünftage oder Monate würde es sich gewiss dem Corisande-Bund zuwenden - falls es das nicht bereits getan hatte.
Noch vor zwei Jahren hätte sich kein einziges Mitglied des Rates der Vikare eine Welt auch nur vorstellen können, in der eine derartige politische und religiöse Absurdität Existenzmöglichkeit besäße. Nun standen sie alle von Angesicht zu Angesicht dem entsetzlichen Schreckgespenst eines Schismas gegenüber. Das Schisma ließ sich bislang nicht überwinden. Mehr noch: Die Anhänger der Schismatiker wurden sogar immer zahlreicher.
In einer Welt, in der so viele Gewissheiten zusammenbrachen, besaß die Jahresansprache des Großvikars gewaltige Bedeutung, und alle Anwesenden blickten sofort zum Thron des Kirchenoberen, als dieser einzelne Glockenton sein Eintreffen verkündete.
Wie es die ältesten Traditionen der Kirche verlangten, betrat Großvikar Erek XVII., das geistliche und weltliche Oberhaupt der Kirche des Verheißenen, Statthalter
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