Die Invasion - 5
auf dem Altar der Verantwortung geopfert hatte. Zu oft hatte sie dem Gewicht der Krone nachgegeben, die sie sich hatte aufsetzen lassen müssen, während alle anderen Mädchen ihres Alters noch mit Puppen spielten. Zu viel Freude hatte sie bereits opfern müssen, große und kleine Freuden, die ihr doch zugestanden hätten. Niemals hatte sich Sharleyan beklagt; nie hatte sie sich in Selbstmitleid ergangen oder auch nur zugegeben, dass sie mancherlei Dinge vermisste. Doch Alahnah hatte all dies vermisst: für ihre Tochter. In einsamen Nächten hatte sie für das Glück ihrer Tochter gebetet, hatte Gott angefleht, ihr auch ein wenig echte, herzliche Liebe zu schenken, als kleine Entschädigung für all jene kalten Ansprüche, die das hohe Ansehen, die Macht und der Reichtum ihrer Königinnenwürde an sie stellten. Gott konnte sie doch unmöglich dazu verdammen, eine verbitterte, kalte Ehe zu führen! Nicht nach allem anderen, das Er ihr schon abverlangt hatte! Und doch hatte Alahnah genau das befürchtet. Auch wenn Sharleyan es niemals zugegeben hatte, wusste ihre Mutter doch ganz genau, dass auch sie eben das befürchtet hatte.
Und jetzt, nur einen winzigen Augenblick lang, zitterten die Lippen der Königinmutter, und dann - zu ihrem eigenen, peinlich berührten Erstaunen - brach sie völlig unvermittelt in Tränen aus. Rasch erhob sich Green Mountain, trat an sie heran, kniete sich neben sie und umfasste mit beiden Händen ihre Rechte; Alahnah hörte seine sanfte und doch drängende Stimme. Er fragte sie, warum sie weine. Doch sie konnte ihm nicht antworten. Sie konnte nur immerzu über den Tisch hinweg starren, hinüber zu dem Mann, der ihr so unerwartet, ohne ein einziges Wort zu sagen, erklärt hatte, dass ihre Tochter genau das Glück gefunden hatte, von dem ihre Mutter stets gefürchtet hatte, es werde ihrem Kind niemals vergönnt sein.
Cayleb Ahrmahk sah Königinmutter Alahnah weinen, lauschte Green Mountains leisen, drängenden Worten. Er war über die Tränen der Königinmutter ebenso erstaunt wie Sharleyans Erster Ratgeber. Dieses Erstaunen aber währte nur einen kurzen Moment. Dann hatte er begriffen, warum der Blick der Königinmutter ihn so forschend durchdrang, auch jetzt noch, durch den Tränenschleier hindurch. Er begriff, dass es nicht Kummer war, der Alahnah die Tränen in die Augen trieb.
Mit der Serviette tupfte Cayleb sich über die Lippen, legte das schneeweiße Leinentuch dann beiseite und schob seinen Stuhl zurück. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin speisten er, Alahnah und Green Mountain hier ohne weitere Gäste. Selbst die Dienerschaft hatte sich zurückgezogen; sollten sie benötigt werden, würde Königinmutter Alahnah ein Glöckchen läuten. Selbst Merlin Athrawes stand vor der Tür dieses privaten Speisesaals: Er hütete die Privatsphäre aller Speisenden. Nun trat Cayleb von der anderen Seite an den Sessel der Königinmutter heran und beugte ebenfalls das Knie. Er griff nach Alahnahs freier Hand, führte sie an die Lippen und hauchte einen Kuss auf den Handrücken. Dann blickte er zu ihr auf - oder besser gesagt: blickte ihr geradewegs in die Augen, denn im Knien war er so groß wie sie in ihrem Sessel.
»Eure Hoheit«, flüsterte er, »in vielerlei Hinsicht hatte ich das Gleiche befürchtet.«
»Befürchtet, Euer Majestät?«, wiederholte Alahnah, und Cayleb nickte. Dann hob er langsam die linke Hand. Mit einer zärtlichen Bewegung strich er ihr eine Träne von der Wange und lächelte die Königinmutter sanft, beinahe schon traurig an.
»Ihr hattet befürchtet, Eure Tochter sitze in der Falle«, erklärte er ihr. »Ihr hattet befürchtet, es laufe auf eine Staatsheirat hinaus, ein Produkt aus nichts als kalter Berechnung und Ehrgeiz. Nach allem, was mir Sharleyan erzählt hat, glaube ich, dass Ihr die Gründe für diese Berechnung kennt, und doch habt Ihr sie gefürchtet. Mir erging es ebenso. Mir lagen Berichte über Eure Tochter vor und Beschreibungen. Ich kannte ihre Geschichte. Aber ich kannte nicht sie selbst, und ich hatte befürchtet - wirklich befürchtet -, dass ich, wenn sie meinen Antrag annähme, uns beide zu einer notwendigen, aber lieblosen Vereinigung verdammen würde. Dass wir, wie so viele andere Prinzen und Prinzessinnen, Könige und Königinnen, gezwungen wären, unsere Hoffnungen auf Glück am Altar der Verpflichtung, die uns die Krone auferlegt, würden opfern müssen.
Das hat Sharleyan für mich geändert. Sie hat es geändert, indem sie jemand war und
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