Die Invasion - 5
Charis zu machen. Kurz gesagt: Wenn Tarot erst uns gehört, wäre es ein Köder, den wir unseren Gegnern geradewegs vor die Nase hängen können. Wir könnten sie in die Gewässer des Kanals und des Golfs locken und dort ihre Flottenstärke deutlich zurückschneiden, ohne einen Einmarsch in Charis selbst befürchten zu müssen. Das gälte selbst dann, wenn es ihnen gelingen sollte, unsere eigenen Verbände irgendwie zu umgehen.«
Gray Harbor legte die Stirn in Falten, so angetan war er von der Analyse der Kaiserin. Erst unter König Sailys war Chisholm zu einer ernst zu nehmenden Seemacht aufgestiegen. Offenkundig hatte auch seine Tochter schon begriffen, wie die Herrschaft über das Meer, wenn man sie denn geschickt auszuspielen wusste, selbst die schlagkräftigste Macht auf dem Festland in Schach halten konnte. Sie hat es wirklich verstanden!, dachte Gray Harbor erfreut. Sharleyan hatte verstanden, welchen Vorteil hinsichtlich der Mobilität und der Verteidigung des eigenen Herrschaftsgebiets eine Seemacht hatte, und auch, wie Seestreitkräfte verfügbare Truppenstärke am wirksamsten einsetzen konnten.
»Unter diesen Umständen«, fuhr die Kaiserin fort, »halte ich es für unsere Pflicht, darüber nachzudenken, wie man Gorjah dazu bewegen könnte, einer friedlichen Eingliederung seines Königreichs ins Kaiserreich zuzustimmen. Ich hoffe, die Tatsache, dass Cayleb die Regentin eines gegnerischen Reiches ehelichte und unser Haus durch Eheschließung mit einem weiteren Gegner verband, hat Gorjah bereits begreifen lassen, dass eine derartige Lösung durchaus die Möglichkeit bereithält, ihn weiterhin nicht nur den eigenen Kopf behalten zu lassen, sondern als unser Vasall sogar noch die Krone seines Reiches. Wenn wir ihm noch einen weiteren Anreiz bieten können, eine solche Lösung in Erwägung zu ziehen, dann, so denke ich, sollten wir das tun. Würden Sie mir nicht beipflichten, Mein Lord Gray Harbor?«
»Ganz gewiss sogar, Eure Majestät.« Gray Harbor erhob sich halb aus seinem Sessel und deutete über den Tisch hinweg eine Verneigung an. »Ich bin ganz Eurer Meinung, auch wenn meine Überlegungen noch nicht so weit gediehen waren, dass ich sie so präzise wie Ihr in Worte zu fassen vermocht hätte. Ich muss allerdings zugeben, dass ich noch nicht daran gedacht hatte, die Geschehnisse in Ferayd könnten Gorjahs Sicht der Dinge beeinflussen.«
»Mir geht es ebenso, Eure Majestät«, ergriff nun Erzbischof Maikel mit einem säuerlichen Lächeln das Wort. »Doch ich glaube, Ihr könntet mit Eurer Analyse durchaus Recht haben. Andererseits muss das Massaker in Ferayd allen zu denken geben, die sich in den Konflikt zwischen Charis und dem Tempel hineingezogen sehen. Das gilt besonders für alle Reiche, die über Hafenstädte verfügen. Wer möchte schon in einem seiner Häfen dasselbe erleben wie in Ferayd!
Gleichzeitig jedoch gibt es auch noch eine moralische Dimension zu bedenken. König Gorjah hat bereitwillig in die Pläne der ›Vierer-Gruppe‹ eingewilligt, ja. Dennoch ist er mir nie als jemand erschienen, der sozusagen auf seinem moralischen Auge gern den Blinden gibt. Rock Points Beweise aus Ferayd, die deutlich belegen, dass die Inquisition unmittelbar und vorsätzlich am Massaker beteiligt war, wird er ebenso zur Kenntnis nehmen wie unsere den Delferahkanern gegenüber deutlich gemessenere Reaktion darauf. Zwei andere Ereignisse fallen ebenfalls ins Gewicht: Eure Eheschließung mit Seiner Majestät und die großzügigen Bedingungen, die man Emerald zugestanden hat. Gorjah dürfte also zu der Überzeugung gelangen, dass jegliche Bedingungen, die Ihr und Seine Majestät ihm anzubieten gewillt seid, auch eingehalten werden. Gleichzeitig beweist Ferayd, dass Ihr wahrlich nicht die blutrünstigen Ungeheuer seid, als die die Propaganda der ›Vierer-Gruppe‹ Euch darzustellen beliebt. Und noch eins: Ich zweifle keinen Moment daran, dass Gorjah angesichts des Stolzes, mit dem sich Graivyr und seine Spießgesellen ihrer Rolle in diesem Massenmord rühmen, schlichtweg angewidert sein wird. Ich glaube nicht, dass ihn das dazu bewegen wird, von sich aus Charis die Bündnistreue anzubieten. Aber ich halte es für durchaus möglich, dass er doch geneigt sein wird, die Souveränität von Charis anzuerkennen, wenn es so weit ist.«
»Ich hoffe, dass Ihr damit Recht habt, Euer Eminenz«, erwiderte Sharleyan ernsthaft. »Und einmal vorausgesetzt, dass Ihr Recht habt, finde ich es an der Zeit, die entsprechenden
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