Die irische Meerjungfrau
Hängematte entdeckte er die leere Spritze.
Hatte sie die ganze Flasche…?
Ihm stockte der Atem. Zögernd schwebte seine Hand über ihr. Er wagte nicht, sie anzufassen. Das Unabänderliche festzustellen. Er musste all seinen Mut zusammennehmen. Berührte ihre Wange. Ganz zaghaft mit der Fingerspitze.
Und zuckte zurück.
Ihre Haut war kalt.
Er atmete aus.
Legte einen zitternden Finger an ihren Hals. Versuchte einen Pulsschlag festzustellen.
Leise. »Charlotte?«
Rüttelte sie leicht an der Schulter, wie man es tat, wenn man einen Schlafenden wecken wollte.
Etwas lauter. »Charlie …«
Sie reagierte nicht. Nur die Hängematte schwankte leicht.
Es musste eine tödliche Überdosis gewesen sein. Und kein Versehen. Die ganzen Umstände, die zertrümmerten Fenster, das Kleid, die Musik, alles ließ nur einen einzigen Schluss zu.
Er war zu spät gekommen.
Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Er fühlte einen Kloß in seinem Hals aufsteigen. Versuchte ihn runterzuschlucken.
»Warum, verdammt …« Seine Stimme war nur ein raues Flüstern.
War seine Meerjungfrau ins Meer zurückgekehrt, weil der Prinz sie nicht erhört hatte? War es seine Schuld? Weil er sie zurückgewiesen hatte?
Er betrachtete ihre Gesichtszüge, versuchte, sich ihre grünen Augen vorzustellen, ihren Meerjungfrauenblick, der ihn so verzaubert hatte. Aber das Bild verschwamm vor seinen Augen.
Irgendwo knarrte Holz.
Als er aufblickte, sah er einen Mann im Aufgang zum Treppenhaus stehen. Groß, kräftig, um die Vierzig, die dunkelblonden Haare nach hinten gekämmt, das sonnengebräunte Gesicht von einem sauber gestutzten Vollbart eingerahmt. Die vergangenen zehn Jahre hatten Jack Keane nicht geschadet. Fin fragte sich, wie lange er schon dort gestanden hatte.
»Sie ist tot«, murmelte Fin.
»Ja.« Seine Stimme klang ruhig und gefasst. Es war anzunehmen, dass er sie schon vor ihm gefunden hatte.
Fin bemerkte, dass er ein flaches Paket in der Hand trug. Etwa sechzig mal neunzig Zentimeter groß, in braunes Wachspapier verpackt und ordentlich verschnürt.
Fin deutete auf das Gemälde. »War es das wert?«
Jack stellte das Paket ab und lehnte es gegen die Wand. »Das Geld war für Charlie. Für die Therapie in den USA. Ist nicht ganz billig, so was.«
»Therapie?« Hatte sie sich weiteren Operationen unterziehen müssen?
»Charlie hatte Probleme mit den Knochen. Wahrscheinlich wegen der vielen Hormone in den letzten Jahren«, gab er bereitwillig Auskunft. Er ahnte wohl, dass Fin Bescheid wusste. »Schmerzen im Rücken. Konnte an manchen Tagen kaum laufen.«
Der Motorradunfall. Noch so eine Lüge.
Jack hob unschlüssig die Schultern. »Ich bin kein Arzt. Ich sorge nur für das nötige Kleingeld.«
»Das wird ihr jetzt nichts mehr nützen.«
»Das Geschäft ist eingefädelt, ich stehe zu meinem Wort. Der Käufer wird das Gemälde heute Nacht abholen. Er wartet draußen auf einem Schiff. Charlie hätte nicht gewollt, dass alles umsonst gewesen wäre.« Er schien es nicht eilig zu haben. Breitbeinig hatte er Aufstellung genommen, die Hände in den Taschen seiner braunen Wildlederjacke vergraben. Fin fragte sich, ob er bewaffnet war.
»Der Käufer wird es sich kaum ins Wohnzimmer hängen können.«
»Mir egal. Meinetwegen kann er sich die Pappe aufs Klo hängen, solange er bezahlt. Irgend so ’n neureicher Russe aus London.« Er war sich seiner Sache ziemlich sicher, sonst würde er Fin kaum mit den Details vertraut machen. Sicher, dass ihm niemand dieses Geschäft vermasseln würde. Schon gar nicht Fin, womit er vermutlich recht hatte, allein und unbewaffnet wie er war.
»Ich fürchte allerdings, aus dem Deal wird nichts.« Fin streckte sich zu voller Länge, um die fehlende Selbstsicherheit durch Körpergröße wettzumachen. »Es hat einen Toten gegeben.«
»Das tut mir leid. Keiner von uns konnte ahnen, dass der Knabe ein schwaches Herz hatte.«
»Das ändert nichts daran, dass hier Schluss ist.«
»Du willst mich aufhalten?« Er klang so überheblich wie vor zehn Jahren.
»Die Polizei ist informiert. Sie ist auf dem Weg hierher.« Der älteste und billigste aller Bluffs, immer wieder gerne benutzt, auch wenn er so gut wie nie funktionierte.
Jack lächelte. Er machte keinen Hehl daraus, dass er ihm nicht glaubte. »Und wenn schon. Hundert Meter von hier liegt ein Boot, das mich und dieses Bild hier zu einer Yacht draußen vor der Küste bringen wird. Wie willst du das verhindern?« Er zog eine Pistole aus der
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