Die irische Meerjungfrau
Baukunst. Nur Landschaft. Und selbst die war wenig spektakulär. Eintöniges Grün, Wiesen und Weiden, die ohne Vorwarnung in scharfen Klippen zum Meer hin abbrachen, ein schmaler Streifen Strand, mit Felsen gespickt, schließlich eine langweilig graue Pampe, die sich Atlantik nannte. Und über allem ein wolkenverhangener Himmel, aus dem es meistens regnete. Wer’s mochte …
Nein, hierher kam niemand freiwillig. Im Gegenteil, seit mehr als tausend Jahren hatten die Menschen alles daran gesetzt, von hier fortzukommen.
Day’s Foreland war eine Halbinsel im äußersten Nordwesten Irlands. Wobei Day eine englische Verballhornung des gälischen Wortes dia war. Dia bedeutete nichts Geringeres als Gott, und ursprünglich hieß der Landstrich An Lámh Dé – die Hand Gottes. Tatsächlich sah die Küstenlinie mit ihren tief ins Land reichenden fjordähnlichen Buchten auf der Landkarte aus wie eine Hand mit fünf ausgestreckten Fingern. Aber diese Gegend schien von Gott ebenso verlassen wie von allen anderen Lebewesen.
Die ersten Spuren menschlichen Wirkens hinterließ – wie sollte es in diesem Lande anders sein – eine Handvoll Mönche, die im achten Jahrhundert hier durchgezogen war. Sie hatten sich nicht lange aufgehalten. Der Legende nach waren sie mit einem Boot, einem lederbezogenen Curach , von einer Landzunge aus in See gestochen. Sie waren dem Zeigefinger Gottes gefolgt, der ihnen den Weg ins Gelobte Land weisen sollte. Wenn sie unterwegs nicht abgesoffen waren, hatten sie wahrscheinlich Grönland entdeckt. Was am Ende aus ihnen wurde, ist nicht überliefert. Aber es ist unwahrscheinlich, dass sie nach dieser Entdeckung noch große Lust verspürt hatten, mehr vom Rest dieser Welt zu sehen.
Wenig später begannen auf dem Nachbarfinger ganz andere Elemente einem eher unchristlichen Handwerk nachzugehen. Denn ganz oben, sozusagen auf der Kuppe des fast schon obszön langen Mittelfingers, lag das Dorf Foley – und der eigentliche Grund für Fins Anwesenheit.
Denn er war ganz und gar nicht freiwillig hier, und er hätte sonst was dafür gegeben, in diesem Augenblick woanders zu sein.
Fin schlug den Kragen seiner Jacke hoch und schniefte.
An sonnigen Tagen konnte er einer solchen Landschaft durchaus etwas Reizvolles abgewinnen, aber an Tagen wie heute? Er war ein Stadtmensch. Völlig ungeeignet für das Leben unter freiem Himmel. Das einzige Grün, das er gelten ließ, waren die Parks in Dublin mit all ihrem staubigen Laub, den überquellenden Abfalleimern, umherirrenden Touristen und vierundzwanzigstündigem Lärmpegel. Autoabgase waren auch nicht schlechter als der muffige Geruch von abgestandenem Salzwasser, verwesenden Krabben und modernden Algen.
Es war viel zu still hier. Kaum ein Laut war zu hören, nicht mal eine einzige keifende Möwe. Das Meer kotzte lustlos auf den Strand und ließ den schmutzigbraunen Seetang hin und her schwappen. Kein Wind, der die Wellen dramatisch aufwühlte oder wenigstens die winzigen Mücken vertrieb. Dazu ein Nebel, der den dicksten Großstadtsmog in den Schatten stellte, milchig, sämig und unappetitlich wie Haferschleim. Der Horizont war hinter einem dichten Schleier aus feinem Nieselregen verschwunden. Während der ganzen Autofahrt hatte es geregnet, und noch immer trommelten die stecknadelfeinen Tropfen auf die harte Schale seiner nagelneuen Wachsjacke.
Er hatte sich gut vorbereitet. Nicht nur eine neue Jacke gekauft. Oder diesen handgestrickten Pullover aus handgesponnener Wolle von freilaufenden Schafen, der eigentlich bloß unangenehm auf der Haut kratzte und bei der ersten Wäsche wahrscheinlich auf Zwergengröße einschrumpfte. Er hatte sich sogar knöchelhohe, wetterfeste Schnürschuhe gekauft, bloß lagen die jetzt im Kofferraum seines Wagens oben an der Straße, weil er es viel zu unbequem fand, mit diesen klobigen Waldbrandaustretern Auto zu fahren.
Seine hellen Wildlederschuhe waren komplett durchweicht. Der kurze Spaziergang über den Strand hatte genügt. Nein, es waren keine handgenähten italienischen Maßschuhe, bloß ein Sonderangebot, aber es wurmte ihn dennoch. Sie waren fehl am Platz. Genau wie er.
Er hätte Gummistiefel mitbringen sollen. Auf der Fahrt war er an einem noblen Country Hotel vorbeigekommen. Dort hatte eine ganze Reihe von Gummistiefeln an der Garderobe ausgeharrt, kein Paar unter zweihundert Euro wert. Im hoteleigenen Pub hatten ihre Besitzer an der Theke gestanden und zwanzig Jahre alten
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