Die irische Meerjungfrau
als der Motor plötzlich spuckte und absoff. Fin fluchte. Versuchte wieder zu starten, aber außer einem erbärmlichen Röcheln brachte der Motor nichts zustande. Draußen klatschte der Atlantik gegen das Blech.
»Scheiße!«
Er stemmte die Tür auf. Eine eiskalte Welle schwappte ins Wageninnere. Rasch sprang er hinaus und hangelte sich am Auto entlang. Hose und Schuhe waren innerhalb von Sekunden durchnässt. Mehr tastend als sehend arbeitete er sich durch die Wellen, er musste aufpassen, dass er die Steine unter seinen Füßen nicht verfehlte. Die Flut reichte ihm schon bis zu den Knien. Wild mit den Armen durch die Luft rudernd kämpfte er sich durch die Strömung und erreichte endlich das rettende Ufer. Triefendnass blieb er im Matsch stehen und japste. Sein aufgegebenes Auto bot einen traurigen Anblick, die Scheinwerfer schimmerten trübe durch schmutzigbraunes Wasser, die Karosserie bebte unter den heranrollenden Wellen, die Scheibenwischer glitten über die Frontscheibe wie das letzte Winken eines Ertrinkenden.
Wieso funktionierten die Scheibenwischer? Musste er das verstehen?
Wie hoch die Flut wohl stieg? Fin hatte gar kein gutes Gefühl was das Schicksal seines vierrädrigen Gefährten anging, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er spitzte die Ohren. Hörte ein dumpfes langgezogenes Tuten. Ein Nebelhorn. Und kurz darauf die Antwort. Etwas leiser. Weiter weg. Ein Boot draußen auf See. Irgendwo auf der anderen Seite der Insel. Er schaute den Hügel hinauf, beobachtete den Lichtkegel des Leuchtturms, der unerschütterlich über den Nachthimmel strich. Er sollte lieber vorsichtig sein, er wusste nicht, was ihn erwartete. Wie viele ihn erwarteten.
Entschlossen stapfte er die Anhöhe hinauf. Der Himmel war heller geworden, die Nacht würde ihm keine Deckung mehr bieten. Das Gebäude lag in völliger Dunkelheit, nur der Turm war erleuchtet. Die Linse drehte sich langsam, sandte Strahlen aus, die die Laterne umschlossen wie eine Krone.
Aber nicht nur der ungewohnte Anblick des sich drehenden Leuchtfeuers machte ihn misstrauisch. Noch etwas war anders, bemerkte er, als er hinüberlief. Aber er wusste auf Anhieb nicht was. Erst als es unter seinen Schuhen knirschte, sah er die zersplitterten Fensterscheiben der Veranda. Das Gras darunter lag voller Scherben.
Fin schaute sich um. Es erschien ihm unwahrscheinlich, dass ein Vogel der Grund gewesen war. Da hätte ein ganzer Möwenschwarm gegen die Scheiben fliegen müssen, um diese Zerstörung anzurichten. Nirgends entdeckte er etwas Verdächtiges. Keine Menschenseele weit und breit. Nicht mal das weiße Pferd. Auch auf der offenen See rührte sich nichts, soweit er das beurteilen konnte, außer einer gleichgültig blinkenden Boje.
Vielleicht hatte er eine Chance. Vorausgesetzt, der Deal war noch nicht gelaufen.
Nein, das Boot war noch zu weit weg.
Auf alles gefasst stieg er die Treppe hinauf. Leise Musik drang an sein Ohr. Nein, kein Sirenengesang. Irdische Stimmen. Die Scheibe in der Tür war als einzige heil geblieben, die Tür selbst nur angelehnt. Langsam stieß er sie auf, gab seinen Augen Zeit, sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, und trat ein.
Der Boden war übersät mit Glasscherben, aber mit weitaus weniger als draußen auf der Wiese lagen. Demnach musste jemand die Fenster von innen mit irgendeinem Gegenstand traktiert haben. Wahrscheinlich mit der Krücke, die dieser Jemand achtlos mitten in dem Durcheinander liegengelassen hatte.
Der CD-Spieler lief leise. Eine Ballade der Eagles . Don Henleys wehmütige Stimme klang nach Sonnenuntergang in der kalifornischen Wüste, nach Cabriofahren auf schnurgeraden Highways, nach Palmen, die sich im lauen Sommerwind wiegten. Erzählte von einem ganz anderen Leben in einer ganz anderen Welt, weit weg von hier. Ganz weit weg von einer nassen kalten Novembernacht in Irland.
Charlotte?
Er entdeckte sie in der Hängematte. Sie schlief.
Wieso war sie hier? Wieso nicht unten beim Anleger? Bei der Übergabe des Van Gogh?
Er trat näher, vermied es, auf die Scherben zu treten, die ihn verraten würden. Seine nassen Schuhe quietschten leise und hinterließen dunkle Spuren auf den Steinfliesen.
Sie sah anders aus als sonst. Sie trug ein Kleid aus dünnem, geblümten Sommerstoff, völlig unpassend für diese Jahreszeit. Die Beine waren nackt, die Füße verschwanden unter einer Wolldecke. Sie trug eine Strickjacke, trotzdem fror es Fin bei ihrem Anblick. Er war versucht, ihr die Decke
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