Die irre Heldentour des Billy Lynn
eigentlich kein Mensch ? Er ist doch jetzt so was wie berühmt, zumindest kriegt er das andauernd erzählt, da darf man ja wohl mehr –. Der Verkehr rollt wieder, die wilden Weiber sind weg, aber dafür kommt am Horizont jetzt das Stadion in Sicht, es wächst aus dem Präriebogen am Stadtrand wie ein aufgedunsener, warzenscheckiger aufgehender Dreiviertelmond. Die Bravos sollen heute auch ins amerikaweite Fernsehen, Einzelheiten offen, Ablaufplan diesmal allen unbekannt. Vielleicht müssen sie etwas sagen. Vielleicht müssen sie Interviews geben. Es heißt, sie seien bei der Halbzeitshow dabei, das weckt Hoffnungen, Destiny’s Child persönlich kennenzulernen, aber es ist ebenso gut möglich, wenn nicht wahrscheinlicher, dass sie sich wieder mit Schleimereien und Schmeicheleien weichklopfen, breitschlagen oder sonstwie belämmern lassen, irgendeine unglaublich dämliche und peinliche Nummer abzuziehen. Die Drehs fürs Lokalfernsehen waren schon reichlich schlimm gewesen – in Omaha hatten ausgesprochen hölzerne Bravos vor laufender Kamera mit dem neuen Affengehege im Zoo »interagiert«, in Phoenix waren sie in einen Skateboard-Park geschleppt worden und Mango für die Abendnachrichten prompt auf den Arsch geflogen. Wenn sich Normalmenschen in die Glotze vorwagen, lauert immer die Blamage, und Billy ist fest entschlossen, sich nicht zu blamieren, nicht heute, nicht amerikaweit, nein, Sir, vielen Dank, Sir, lehne ergebenst ab, den Volltrottel zu machen, Sir !
Dass heute noch alles Mögliche passieren könnte, verursacht einen Jammerton in seinem Bauch, er klingt wie Luft, die durch eine nadelöhrenge Wunde entweichen will. Billy möchte gern ins Fernsehen, aber irgendwie auch nicht. Doch, er möchte ins Fernsehen, vorausgesetzt, er baut da keinen Scheiß und kommt vielleicht an einen Fick, aber beim Blick auf dieses Stadion, das hinter dem Hummer-Fenster langsam auf Death-Star-Dimensionenanschwillt, ist er nicht mal sicher, heil durch den Tag zu kommen. Die letzten beiden Wochen ringt er ständig um Selbstvertrauen, er hat das Gefühl, kopfüber auf der Stelle zu treten. Er ist zu jung. Er weiß nicht genug. Er war, abgesehen von den drittklassigen Dragster-Rennen, bei denen sein Vater früher als Conferencier gejobbt hatte, noch nie bei einer Profisportveranstaltung. Billy hat es tatsächlich fertig gebracht, in Stovall aufzuwachsen, gerade hundert Kilometer westlich vom Texas Stadium, und das sagenumwobene Ding nicht ein Mal mit eigenen Augen zu sehen, sondern immer nur durch das kastrierende Medium namens Fernsehen, und so ist sein erster Blick mit eigenen Augen jetzt von historischer Tragweite oder legt es zumindest darauf an. Billy mustert das Stadion in aller Ruhe, gründlich und aufmerksam, er versucht, es in seiner ganzen klotzigen Humorlosigkeit, seiner unheilbaren blanken Hässlichkeit zu erfassen. Jahrelange penibel arrangierte Fernsehbilder haben diesen Bau ausgestattet mit einer Aura aus Geheimnis und Romantik, Sahnehäubchen aus National- und Staatsstolz, Andeutungen pharaonenhafter Nachwirkungen, alle öffentliche Großbauten haben so etwas an sich, und all das macht aus dem Stadion in Billys Kopf eine Passage, eine Pforte, eine Direktleitung zur Erhabenheit durch schiere Masse in Fertigbauweise, womit wiederum die Schäbigkeit des wirklichen Lebens zum miesen Abstieg wird. Der Größe, was ihr gebührt, klar, aber das Ding hier sieht aus wie im Hobbykeller gebastelt. Das Dach ist ein scheußliches Sammelsurium von Ziegeln, die nicht zusammenpassen. Die Konstruktion ist altersbedingt zusammengesackt und hängt so durch, dass einem sofort schlaffe Wampen einfallen, Wälzen im Schlamm, Massen gestrandeter Walhaftigkeit im Banne der Schwerkraft. Er versucht sich vorzustellen, wie es nagelneu aussah, im verheißungsvollen frischen Glanz von vor – dreißig Jahren? Vierzig? Vergangenheit ist unsicheres Gelände für Billy, aber es gibt auch eine heimlicheVerbindung zwischen seinem augenblicklichen Gefühl beim Anblick des Stadions und seinen Gefühlen beim Gedanken an seine Familie. Da sind dieselbe Schwere, dieselbe Dumpfheit und Melancholie, eine Art ekelhaft süßer Emo-Funk, der aber fast angenehm wirkt, weil er immerhin auf etwas Wirkliches verweist. Ist Leid etwa die wahre Wirklichkeit? Richtig nachgedacht hat er darüber noch nie, aber er ist schon länger überzeugt, dass die normale Lebenskurve von Verlusten gezeichnet wird. Etwas Neues kommt in die Welt – ein Baby zum Beispiel oder ein Auto
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