Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
für Pausen und wann immer es die Route erlaubte, machten sie halt für einen Familienbesuch – nehmt dieses Wort so schwer, wie ihr wollt. Wenn wir im Bild bleiben wollen, war die Reise nach Hamburg ihr Mount Everest. Die längstmögliche Strecke im Aktionsradius von La Ibérica. Nur einmal zuvor hatten sie diese Tour gemacht, und sie war ihnen in schmerzhafter Erinnerung geblieben. Hamburg, so hatten sie festgestellt, lag im hohen Norden Deutschlands. Schon beim Blick auf die Karte hatten sie zu frieren begonnen.
»Da sind wir ja fast am Polarkreis«, hatte Bundó bemerkt.
Die Reise war ihnen endlos erschienen, obendrein war es Winter gewesen, und sie hatten die volle Wucht des schlechten Wetters abbekommen. Regen und Schnee, noch mehr Regen und noch mehr Schnee und Fahren mit Ketten um die Reifen und alle zweihundert Kilometer Polizeikontrollen und immer wieder Staus, und in der Kabine fiel die Heizung aus … Der Laster wurde alt, er vertrug solche schweren Kämpfe nicht mehr gut.
Nun, zwei Jahre später, war der Pegaso immer noch derselbe klapprige Opa, Hamburg befand sich noch am selben Ort, und bei den drei Fahrern hatte die Abenteuerlust stark nachgelassen.
Der Aufstieg begann frühmorgens am Samstag, den 12. Februar. Herr Casellas hatte für die Fahrt durch Frankreich und Deutschland insgesamt vierundzwanzig Stunden veranschlagt, schlafen sollten sie abwechselnd auf der Pritsche hinter den Sitzen, und am Sonntag sollten sie entladen, abermals frühmorgens. Wenn sie in diesem Takt blieben, könnten sie am Montag im Lauf des Abends zurück in Barcelona sein und am Dienstagmorgen pünktlich zur Arbeit erscheinen. Die drei wussten, was sie von solchen Zeitplänen zu halten hatten, aber der Umzug flößte ihnen Respekt ein. Zumal der Pegaso bis zum Bersten beladen war: Sie transportierten die Möbel und Erinnerungen einer frisch verwitweten Dame, die nach Hause zurückkehrte, fast vierzig Jahre nachdem sie vor den Nazis geflohen war, einen katalanistischen Bankier geheiratet und vier kleine Kinder durch den Spanischen Bürgerkrieg gebracht hatte, die sie sich nun vom Hals schafften.
Kaum hatten sie die Grenze nach Frankreich passiert, kam es zum ersten Zwischenfall. Bundó, der bis dahin stumm vor sich hin gebrütet hatte, brach plötzlich sein Schweigen: »Gleich sind wir ja bei Clermont-Ferrand, da sollten wir vielleicht einen Moment beim Papillon halten. Nur zehn Minuten, einmal rein und raus. Ich muss nämlich mit Carolina reden.«
Er sagte es in ruhigem, gespielt unbefangenem Ton, wie ein Kind, das bittet, ihm etwas zu kaufen, und schon weiß, dass die Antwort Nein lauten wird. Gabriel und Petroli hatten es befürchtet. Vor dem Aufbruch hatten sie alle drei abgemacht, sie würden auf dem Hinweg nirgendwo anhalten, um so schnell wie möglich nach Hamburg zu kommen. So würden sie Zeit gewinnen und könnten nachher den Abstieg entspannt angehen.
Gabriel ergriff das Wort: »Du weißt, das geht nicht, Bundó. Du sagst zehn Minuten, aber wir kennen uns doch. Diesmal dürfen wir keine Zeit verlieren. Das hier ist der Everest.«
»Warum muss immer das gemacht werden, was ihr sagt?«, entgegnete Bundó. »Weißt du was? Ihr lasst mich raus und fahrt ohne mich weiter.«
Die Freunde lachten über den Witz.
»Ich meine es ernst. Ich höre auf. Ich komme schon zurecht. Hiermit kündige ich bei La Ibérica. Ihr könnt es dem Casellas dann ja sagen. Adiós. Ich habe mir das gut überlegt, ich kaufe mir einen kleinen Laster und mache Transporte auf eigene Rechnung. Bei dem Kacklohn, den wir kriegen …«
»Du redest ohne Sinn und Verstand, Bundó. Auf dem Rückweg kannst du bei Carolina bleiben, solange du willst. Ich weiß auch gar nicht, in was du dich da reinsteigerst. Sie liebt dich abgöttisch, das konnte an Weihnachten jeder auf den ersten Blick sehen.«
»Auf dem Rückweg ist es vielleicht schon zu spät. Ich muss sie jetzt sehen. Ich muss sie überzeugen, dass sie diese beschissene Arbeit endlich sein lässt und mir mit kommt, am besten gleich morgen. Ich muss ihr sagen, dass Mireille auch nach Barcelona kommt.«
»Du weißt, dass du ihr das nicht sagen kannst. Das wird nämlich nie passieren.« Und die Wut verfärbte Gabriels Gesicht.
»Na dann sage ich ihr eben was anderes. Wie wär’s, wenn ich ihr erzähle, dass du noch eine Frau in Frankfurt und eine in London hast und noch zwei Kinder als Dreingabe?« Er machte eine Pause. »Immer habe ich für dich lügen müssen, Gabriel, um dich zu
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