Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
schützen. Und was habe ich davon? Nichts!«
Unser Vater – wir wissen das alles von Petroli – blieb nun stumm und sah den Freund mitleidig an. Bundó versuchte sich an einem schuldbewussten Lächeln, erschrocken über seine eigene Frechheit. Ein paar Ohrfeigen vonseiten Gabriels hätte er gut nachvollziehen können. Petroli, der am Steuer saß, erkannte, dass mit diesem Schweigen dreißig Jahre Freundschaft den Bach hinunterzugehen drohten, also griff er ein: »Einverstanden, wir halten zehn Minuten am Papillon. Zehn Minuten und Schluss, eine Zigarettenlänge. Wenn du länger brauchst, Bundó, fahren wir weiter, und du kannst sehen, wo du bleibst.«
Bundó bedankte sich mit kaum hörbarer Stimme und versenkte sich dann wieder in sein Grübeln. Auf der ganzen Strecke bis zum Bordell sprach keiner mehr ein Wort. Gabriel saß reglos da, mit leerem Blick. Petroli schaltete Radio Exterior de España ein, um die Stille zu vertreiben.
»Zehn Minuten, Bundó«, wiederholte er, als sie vor dem Papillon standen. »Sechshundert Sekunden. Die Stoppuhr läuft.«
Als die Zeit um war, ließ er den Motor an, und Bundó schoss wie ein Pfeil aus der Tür des Gebäudes hervor. Gabriel und Petroli hatten ihre Zigarette geraucht, und Gabriel hatte sich bei Petroli bedankt. Carolina winkte ihnen vom Treppenabsatz mit verwundertem Gesicht zu.
»Auf der Rückfahrt nennt sie mir ein Datum!«, schrie Bundó, als der Pegaso sich in Bewegung setzte. Er war nicht wiederzuerkennen.
»Hast du ihr was gesagt?«, fragte Gabriel, den Blick starr auf die Straße gerichtet.
»Was?«
»Ob du ihr was gesagt hast. Von Sigrun und Sarah und Mireille und den Kindern.«
»Nein, natürlich nicht! Für wen hältst du mich? Für einen Verräter? Meine Freunde: Carolina sagt, auf dem Rückweg wird sie mir ein Datum nennen. Versteht ihr? Den genauen Tag, an dem sie nach Barcelona kommt! Wir vermissen uns einfach zu sehr, so kann es nicht weitergehen!«
Vor Aufregung konnte er nicht still sitzen. Als Nächstes umarmte er Gabriel und verwuschelte ihm die Haare. Es war seine Art, ihn um Verzeihung zu bitten. Gabriel schaffte ihn sich mit einem versöhnlichen Stoß vom Hals, und Petroli schlug dreimal auf die Hupe.
Nachdem diese Hürde überwunden war, verlief der Aufstieg nach Hamburg so beschwerlich und abwechslungsreich wie zu ihren besten Zeiten. Auf der Höhe von Straßburg hatten sie eine Panne und mussten den Keilriemen austauschen. In der Nähe von Karlsruhe aßen sie in einem Restaurant, in dem es jeden Abend Hirsch gab. Und so weiter.
Wir Christofs würden viel darum geben, eine Zeitreise machen und bei einem dieser Abendessen an der Strecke dabei sein zu können oder ein Stück in der Pegaso-Kabine mitzufahren. Am Konzert der Stimmen teilzuhaben, an den Diskussionen und den Witzen, die abgestandene Luft zu atmen, über Herrn Casellas’ Tyrannei zu klagen, zu frieren, mit Handschuhen am Lenkrad zu sitzen, einzuschlummern und von den nackten Kalendermädchen zu träumen. Kurzum: einer von ihnen zu sein.
Im Grunde, sagen wir uns, sind die vielen Stunden, die wir auf den Spuren unseres Vaters und seiner Freunde verbringen, ein Ersatz für Besuche beim Psychologen. Indem wir herausfinden, wie sie gelebt haben, lernen wir vielleicht besser zu verstehen, wer wir selbst sind. Darum müssen wir nun auch, wenn wir diese letzte Reise bewältigen wollen, eine weitere Abkürzung nehmen. So unwahrscheinlich es klingen mag: Noch am selben Tag fällte Petroli seinen Entschluss, in Hamburg zu bleiben.
Die letzten Stunden des letzten Umzugs waren besonders mühselig. Ab Hannover war die Autobahn vereist, und der Lastwagen schob sich mit zermürbender Langsamkeit voran. Sie kamen am Sonntagmittag in Hamburg an, über fünf Stunden später als vorgesehen, und sie brauchten noch eine weitere, um die Adresse zum Entladen zu finden. Seit mehr als dreißig Stunden waren sie nun unterwegs. Doch es geschah das Gleiche wie jedes Mal: Trotz der Erschöpfung weckte der Anblick des Gipfels neue Energie in ihnen, und sie ließen sich auf einen finalen Kraftakt ein. Diesmal hatten sie beim letzten Wegstück obendrein das Glück auf ihrer Seite: Die deutsche Witwe hatte zwei Möbelpacker angeheuert, die sie erwarteten. Schon vom olympischen Geist erfasst – im Sommer standen ja die Spiele in München bevor –, bewiesen sie, dass sie einen Platz im deutschen Gewichtheberteam verdienten. Zu fünft hatten sie den Job erledigt, als es zwar längst dunkel war, aber noch
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