Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
die letzte Fahrt des Pegaso hinaus, als könnte man den Lauf der Geschichte ändern, indem man nicht darüber spricht. Doch nun genug der Ablenkungsmanöver. Wir sind inzwischen so geübt, dass wir in Echtzeit – Maßstab eins zu eins – alles rekonstruieren könnten, was zwischen der Weihnachtsnacht und dem 14. Februar geschah, dem traurigen Valentinstag. Aber das steht uns nicht zu. Wenn wir mit der Suche nach unserm Vater weiterkommen wollen, müssen wir das Entsetzliche verdammt noch mal endlich angehen. Ohne weitere Umschweife. Wir müssen voranschreiten.
Also: Obwohl sie sich in der Heiligen Nacht sehr miteinander befreundeten, haben Mireille und Carolina sich danach nie wieder gesehen.
Am folgenden Morgen (beziehungsweise den ganzen Vormittag) vergruben sich Gabriel und Mireille im Falkenzimmer. Sie waren mit einem unmenschlichen Kater erwacht, und jedes Wort, das sie sprachen, dröhnte ihnen wie ein Paukenschlag im Schädel, ro-po-pom-pom. Gegen diese alkoholische Migräne halfen nur Dunkelheit und Schweigen, also redeten sie nicht mehr über ihre Zukunft. Hätten sie gewusst, dass dies die letzten Stunden waren, die sie im Leben miteinander verbringen würden (zumindest als Paar), so hätten sie die Zeit gewiss besser genutzt.
Am späten Nachmittag, als Frau Rifà hörte, dass sie aufgestanden waren, machte sie ihnen den Rest von der Suppe mit gefüllten Schneckennudeln warm, die sie zum Abendessen gekocht hatte. Der Eintopf war gehaltvoll und belebte die beiden so weit, dass ihnen klar wurde, ihnen blieben nur noch zwei Stunden bis acht Uhr, bis der Bus nach Paris abfuhr. Als Mireille ihre Sachen packte, klopfte Frau Rifà an die Zimmertür, um ihr den ausgestopften Kolibri zu schenken. Sie hatte ihn abgestaubt, und der Anblick des schillernd bunten Gefieders sollte der jungen Frau den Abschied und die Reise versüßen.
»Pass mir gut auf ihn auf«, sagte die Wirtin auf Französisch. »Ach, und komm bitte mal wieder und nimm dann den Gabriel mit. Zwar liebe ich ihn sehr, aber wenn er noch viel länger in diesem Haus lebt, verwandelt am Ende auch er sich in ein ausgestopftes Tier.«
Heute befindet sich immerhin der Kolibri noch in Mireilles Wohnung. Wie sich damals ihre Abwesenheit für unsern Vater anfühlte, wissen wir nicht genau. Zum ersten Mal bekam er dieselbe Medizin zu schmecken, die er unseren Müttern schon so oft verabreicht hatte. Zum ersten Mal war er es, der zum Abschied dastand und winkte, der dann nach Hause ging und mit der Einsamkeit zurechtkommen musste. Wir vermuten, dass er diese neue Erfahrung wenig erbaulich fand. Und als gälte es, das noch zu unterstreichen, trat in den nächsten Tagen eine weitere Unannehmlichkeit ein. Carolina war eine ganze Woche in Barcelona geblieben, bis Silvester, und am 1. Januar fuhr sie zurück nach Frankreich. Muriel brauchte sie im Papillon. Und obwohl sie es von Beginn an so abgesprochen hatten und sie ihm versicherte, es dauere nun nicht mehr lange, bis sie zusammen in Barcelona leben würden, nahm Bundó ihre Abreise sehr schlecht auf. Plötzlich schien der Einsatz, den Carolina gezeigt hatte, nichts mehr zu bedeuten. Die Angst, sie würde ihr Versprechen nicht einhalten, demoralisierte ihn und trieb ihn zu furchtbarer Eifersucht auf all die Froschfresser, die für ihre Liebesdienste bezahlten. Er wurde krank.
»Sie hat ja nicht mal eine Zahnbürste hinterlassen!«, schrie er Gabriel an, als der ihn zu beruhigen versuchte.
In der ersten Arbeitswoche nach den Festtagen verschlimmerte sich sein Zustand weiter. Bundó war überzeugt, das Einzige, was nun helfen könnte, wäre, Carolina im Papillon aufzusuchen, doch es stand gerade keine Auslandsfahrt an, nur innerstädtische Umzüge, vereinzelt einer in Spanien. Mit jedem Tag, der verstrich, ohne dass er sie sehen konnte, hatte er das Gefühl, sie entfernte sich weiter von ihm. Verzweifelt rief er sie abends an, doch sobald er ihre Stimme hörte, erstarrte er und konnte nur noch auflegen. Ab dem dritten Anruf hatte Carolina begonnen, den putain de connard zu beschimpfen, der sie da belästigte. Und inmitten dieses zehrenden Wahns fiel Bundó dann eine maßgeschneiderte Lösung ein. Carolina brauchte einen besonderen Anreiz, um nach Barcelona zu kommen. Sie hatte Panik, sich hier alleine zu fühlen und zu langweilen. Wäre Mireille auch hier, mit der sie sich so gut angefreundet hatte, so würde ihr die Umstellung leichter fallen. Das war es: Mireille musste nach Barcelona ziehen. Also begann
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