Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
vielleicht weil es ihr ein Bedürfnis war, zeigte sie mir beim dritten oder vierten Mal Leiva, Sayago und Porras und erklärte mir, wer sie waren, diese drei steif dastehenden Männer in der mittleren Reihe, genau hinter den hohen Beamten.
»Siehst du den Jungen da, der fast so ein Rabaukengesicht hat wie du?«, fragte sie mich. Ich nickte, obwohl ich nicht wusste, wen sie meinte. »Der heißt Porras und arbeitete mit mir am Flughafen. Jeden Tag kam er mit der Vespa, im Winter tränten ihm dann von der Kälte und dem Wind den ganzen Vormittag lang die Augen. Sobald er sich die Arbeitskleidung angezogen hatte, kam er zu meiner Kabine. Manchmal sagte er scherzhaft, er weine meinetwegen, weil ich ihn nicht liebte und ihm keinen Kuss geben wollte. Aber das stimmt nicht: Ich liebte ihn sehr wohl.«
»Ist das der, der auch die verlorenen Koffer mitnahm?«
»Ja. Er und seine zwei Freunde hier, Leiva und Sayago.«
Leiva schien auf die Glatze des Flughafenleiters hinabzuschielen. Dem jungen Porras stand der Mund halb offen, als könnte er sich ein Lachen nicht verkneifen, und neben ihm hatte Sayago seinen Schnurrbart perfekt in Form gebracht und starrte mit gewichtiger Miene in die Kamera. Jedes Mal, wenn wir vor dem Schaufenster haltmachten – dazwischen vergingen oft Monate –, erzählte mir die Mutter ein neues Detail aus dem Leben ihrer drei Freunde oder aus ihrer eigenen Zeit am Flughafen.
Ich wuchs, und das Foto vergilbte.
Wann sie die von der Sonne entfärbte Reliquie dann doch noch aus dem Schaufenster nahmen, weiß ich nicht. Als ich Jahre später wieder einmal an dem Geschäft vorbeikam und sie instinktiv mit dem Blick suchte, war sie verschwunden. Sofort brannte in mir die Nostalgie auf wie ein Fieberschub. Ihr findet das vielleicht absurd, aber ich konnte mich eine ganze Weile lang nicht vom Fleck rühren. Ich vermisste das Foto so, wie man ein Lieblingsspielzeug aus der Kindheit vermissen kann, mit dieser unmäßigen Kraft, mit der sich Erinnerungen im Leben festkrallen. Ich will nicht theatralisch sein, aber dieses Bild vom Flughafen war die wichtigste Verbindung, die ich zu meiner Dunkelheit hatte, zu meiner ewigen Dunkelheit vor meiner Geburt. In der Stille des eingefangenen Moments hielt es eine Unruhe fest – die Unruhe meiner Mutter, die verschlüsselte Information über ihr Leben und seine Möglichkeiten –, und damit war es für mich zu einem Schatz geworden. Zudem konnte man hinter der aufgestellten Gruppe einen Streifen des Hallenbodens sehen, den die drei Freunde blank geputzt hatten und über den orientierungslos mein künftiger Vater, unser Vater Gabriel, geschritten war. Ein winziger, aber entscheidender Zeitabschnitt, ein weiterer Schatz.
Ich will nicht theatralisch sein, sage ich. Als ich an dem Abend heimkam, lief ich gleich zu meiner Mutter, um ihr zu erzählen, dass das Foto nicht mehr bei Nièpce im Fenster stand. Ich erwartete, dass sie meine Entrüstung teilen würde, doch sie war völlig unbeeindruckt. Das Einzige, was sie tat, war, eine Blechdose voll alter Papiere aus einem Schrank zu holen. Darin bewahrte sie noch einen Abzug von dem Foto, im Kleinformat. Den hatte sie ein paar Tage nach dem Festakt am Flughafen geschenkt bekommen, zum Dank für ihr Mitwirken bei dieser privaten Farce. Mir hatte sie ihn anfangs vorenthalten, um den Zauber des Schaufensters nicht zu zerstören, und danach hatte sie ihn vergessen. Als ich das Bild nun also nach Jahren wiedersah, kam es mir vor wie eine dieser Aufnahmen von Lourdes-Pilgern: eine Gruppe von Menschen, die alle krank, gelähmt oder in Trauer sind, porträtiert im Licht der Heiligkeit, gesalbt vom Segen der Muttergottes. Kreuze und Kerzen und Priester. In der Ecke links oben hätte meine Mutter einwandfrei die Rolle einer schwebenden Maria spielen können. Das sagte ich ihr, und sie stieß ihr trockenes Lachen aus, mit dem bitteren Beiklang, den die Jahre und Enttäuschungen mit sich gebracht hatten. Sowie täglich zwei Gläser Whisky.
Ich sah mir noch einmal ihr jugendliches Gesicht auf dem Foto an.
»Wie alt warst du da?«
»Das weißt du doch.«
»Nein, sag mal.«
»Rechne es dir aus. Einundzwanzig oder zweiundzwanzig. Und nichts als Flausen im Kopf.«
Und noch einmal die anderen Gesichter um ihres herum. Vier geschniegelte Bonzen in der ersten Reihe, umrahmt von einem Haufen unbedeutender Männlein, die alle bemüht waren, sich die schmerzenden Füße, die unbezahlten Rechnungen oder den schalen Geschmack des
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