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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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schließen, aufrecht vor dem Spiegel stehend, und setzte ihm die Perücke auf. Sie verdeckte die kahle Stelle und sogar noch ein paar Haare ringsherum. Mit geschlossenen Augen fühlte es sich für Conrad an, als zöge seine Mutter ihm eine kleine Mütze über, vielleicht eine Baskenmütze, doch dann spürte er, wie sie ihm mit den Fingern das Haar zurechtstrich wie mit einem Kamm, und er begann zu lächeln. Als er die Augen öffnete, war sein erster Eindruck allerdings unangenehm. Der Mensch im Spiegel war nicht er selbst. Er kam sich lächerlich vor, zumal die Perücke zu groß ausfiel – sie war natürlich nicht maßgefertigt –, und er fühlte sich in einen schutzlosen Moment seiner Kindheit zurückversetzt, als Dolors ihn einmal als Trapper im Stil Daniel Boones verkleidet hatte. Das Foto des bleichen, angespannten Jungen mit einem künstlichen Fuchsschwanz um den Kopf lag noch in irgendeiner Schublade in der Wohnung, wie eine missachtete Prophezeiung.
    Conrad berührte die Perücke und versuchte sie zu verschieben. Beim Knistern der falschen Kopfhaut sträubten sich ihm die echten Nackenhaare.
    »Keine Sorge, wir werden sie dir anpassen«, sagte ihm Dolors im Spiegel. »Mit ein paar Schnitten und ein bisschen Festiger ist das erledigt. Und die Farbe stimmt wirklich genau!«
    Laut meiner Mutter, die ihren Vater für einen ziemlich einfältigen Menschen hält – bisweilen liebenswert, bisweilen schlicht eine Plage –, machte sich Conrad Manley erst viele Jahre später klar, dass die Perücke von einem Toten stammte. Drei oder vier Etagen unter ihnen im Carrer del Tigre wohnte ein Leinenschuhmacherpaar, mit dem meine Urgroßmutter sich bestens verstand. Sie waren älter als sie und hatten sich im Krieg, als Martí an der Front war, sehr um sie und das Kind gekümmert. Seit die ganz schwere Zeit überstanden war und sie ihren Espadrilles-Laden wiedereröffnet hatten, leistete ihnen dort ein Onkel Gesellschaft, der nach einem Schlaganfall die Beine kaum noch bewegen konnte. Auch die Sprache hatte er verloren, aber von seiner Ecke aus, in einem mit Kissen gepolsterten Sessel, bekam er alles mit, was im Laden geschah. Es sah aus, als würde er den Gesprächen nicht mit den Ohren folgen, sondern mit seinen kleinen glänzenden Augen. Er war alleinstehend und, den eigenen Neffen zufolge, stockschwul. Doch eigentlich wussten sie wenig über sein Leben, bloß dass er immer ein wenig aufmüpfig gewesen war. Ein Bohemien mit Neigung zur Prahlerei; vor dem Schlaganfall hatte er immer gerne von absinthgetränkten Varieténächten erzählt, die er mit seinem Freund, dem Künstler Santiago Rusiñol, verbracht habe. Nun pflegten ihn die Neffen in der irrigen Hoffnung, nach seinem Tod würde ein verborgenes Erbe ans Licht kommen – ein Gemälde von hängenden Gärten, eine Zeichnung von einer gelangweilten Dame, ein unveröffentliches Theaterstück des berühmten Freundes –, und jeden Morgen, bevor sie ihn in den Laden hinuntertrugen, taten sie ihm den Gefallen, ihn mit Anzug und Fliege zu bekleiden und ihm die Perücke aufzusetzen, die er immer schon getragen hatte. Selbst zum Schluss, als er schon ziemlich hinüber war, verstand es dieser stumme Mann im Sessel, eine stolze, würdevolle Haltung zu wahren, eine Ausstrahlung, die jeden, der den Laden betrat, in ihren Bann zog.
    Bis zu dem Tag, als die Perücke endlich auf Conrad Manleys Kopf landete, hatte meine Urgroßmutter sich drei Monate lang um sie bemüht. Drei Monate Rechnen und Hoffen, erst Andeutungen, dann Angebote, bis hin zur konkreten Vereinbarung mit den Schuhmachern. Der alte Onkel hatte einen zweiten Schlaganfall erlitten, schlimmer noch als der erste, und der Arzt hatte ihnen gesagt, da sei nichts mehr zu hoffen. Er schlief nun die meiste Zeit und konnte sich fast gar nicht mehr bewegen, und so nahmen sie ihn auch nicht mehr mit in den Laden. Ihm bleiben nur noch ein paar Tage, sagten sie mit dünner Stimme. Doch diese paar Tage multiplizierten sich. Freitags und samstags, wenn der Andrang im Geschäft am größten war, kümmerte sich Dolors um den Kranken, das hatte sie angeboten. Sie verzichteten nun darauf, ihm die Perücke aufzusetzen, und wenn meine Urgroßmutter mit ihm alleine war, studierte und vermaß sie seinen Schädel mit der Hingabe einer Phrenologin.
    Wie abgesprochen, bekam sie, als der Onkel dann doch gestorben und begraben war, zum Lohn für ihre Hilfe die Perücke geschenkt. Die Neffen gaben sie ihr gerne, denn Dolors hatte ihnen

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