Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Rita, und sie fand sich nicht gleich zurecht. Sie war in ihrem Zimmer, sie war nackt, sie war allein in der Wohnung. Sie gähnte dreimal hintereinander, und nach dem dritten Mal blieb ihr der Mund offen stehen, weil sie auf dem Wecker die Uhrzeit erblickt hatte. Ein Gefühl der fröhlichen Rebellion und Disziplinlosigkeit durchströmte sie.
Wenn ich meine Mutter darum bitte, mir diese Momente zu schildern – wie sie aus dem Bett stieg, wie sie nackt und sorglos durch die Wohnung spazierte, wie sie frühstückte und sich duschte –, dann sagt sie immer, ihre Bilder davon sähen aus, als wäre das alles unter Wasser geschehen oder hinter Milchglas. Kein Wunder. Ehe sie unter die Dusche ging, schaltete sie ein kleines Radio an, das auf einem Regalbrett im Bad stand. Conrad rasierte sich immer zu den Acht-Uhr-Nachrichten von Radio Nacional. Rita stellte einen anderen Sender ein, um Musik zu hören. Nach einer Weile kam sie aus der kurzen, altmodischen Badewanne mit Treppchen wieder hervor und begann sich die Haare trocken zu rubbeln. Im Spiegel sah sie verschwommen ihr Gesicht. Da fuhr durch den Nebel und mitten ins laufende Lied hinein die Stimme eines Sprechers mit einer dringenden Durchsage.
»Achtung, Achtung, mit freundlicher Unterstützung von Kelvinator, ¡me gusta la vida!, haben wir hier für Sie eine wichtige Eilmeldung. Aus bisher unbekannten Gründen ist vor wenigen Minuten auf dem Flughafen del Prat von Barcelona eine Maschine der Iberia beim Abflug von der Startbahn abgekommen und nach Zusammenprall mit einem Versorgungslastzug in Brand geraten. Nach Auskunft der Flughafenleitung handelt es sich um den Flug Iberia 1190 mit Ziel Paris-Orly in Frankreich. Noch ist nicht bekannt, ob es Überlebende gibt. Die Fluggesellschaft ruft in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz Angehörige und Betroffene auf, sich unter folgender Telefonnummer zu melden …«
Nur an ein Detail aus diesen wässrigen Minuten kann Rita sich ganz genau erinnern: Wie sie inmitten ihrer Erschütterung und trotz der Tränen, die ihr schon aus den Augen schossen, die Telefonnummer auf den beschlagenen Spiegel schrieb. Gleich darauf rief sie bei Iberia an und schrie die Namen ihrer Eltern in den Hörer.
»Entschuldigung, würden Sie mir den Nachnamen Ihres Vaters buchstabieren, Fräulein?«, fragte eine sanfte Rotes-Kreuz-Stimme zurück. »N wie Navarra, A wie Alicante …«
»Nein, nein! Manley! Conrado Manley! Mit M wie Mord, A wie Absturz, N wie … wie Niemand …«
2
I M K ÄFIG
Cristòfol ist immer noch an der Reihe
Anstatt der romantischen Fantasie von Paris war der Endpunkt der Reise von Conrad und Leo der Friedhof Montjuïc von Barcelona. Eine bescheidenere, aber nicht weniger schöne Version des Père Lachaise. Christofs, wenn ihr die beiden einmal besuchen wollt, nur so als Vorschag, dann fragt am Eingang nach den Gräbern der Anarchisten Durruti und Ascaso. Von dort aus, mit Blick auf eine Landschaft aus Pinien und Lkws und als Hintergrund, in Meeresdunst gehüllt, den Handelshafen, geht ihr etwa zwanzig Meter nach rechts, dann findet ihr die Grabnische meiner Großeltern. Lest die Inschrift: Diese Namen und Jahreszahlen sind so ziemlich die einzige fassliche Spur, die von ihnen bleibt, denn nach dem Flugzeugunglück fand man keine identifizierbaren Überreste ihrer körperlichen Hüllen, um es spiritistisch zu sagen.
Laut meiner Mutter forderte der Unfall ein Dutzend Tote und an die hundert Verletzte. Damals gab es in den Iberia-Maschinen noch keinen Flugschreiber, also war man zur Rekonstruktion der Ereignisse auf die Aussagen der Überlebenden, darunter die Piloten, und auf die Beobachtungen aus dem Kontrollturm angewiesen. Demzufolge war, als das Flugzeug gerade zu beschleunigen begann, ein Reifen geplatzt. Die Maschine rutschte von der Startbahn, doch dem Piloten gelang es, sie abzufangen und zu bremsen. Man schien mit dem Schrecken davongekommen zu sein, da tauchte aus dem Nichts dieser Tanklaster auf und prallte gegen das Heck. Auch wenn es aussah wie in Zeitlupe, war die Kollision so heftig, dass sie das Flugzeug entzweiriss. Das Heck ging in Flammen auf. »Inmitten der allgemeinen Panik«, schrieben die Reporter, »verschlang die Explosion auf der Stelle die unglücklichen Passagiere, welche die hinteren Sitzplätze innehatten.«
Tatsächlich hatte sich mein Großvater Conrad auf Empfehlung eines neunmalklugen Nachbarn mächtig ins Zeug gelegt, um für sich und die Großmutter Plätze ganz hinten im Flugzeug zu
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