Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
diese Vagheiten mit persönlichem Inhalt aus, dann sah sie nach, was über ihre Eltern in den Sternen stand. Sie fand es immer wieder lustig, dass ihre Mutter, Leo, tatsächlich Löwe war. Doch das Horoskop las sich so klar und apokalyptisch, dass sie erschrak: »Jupiter hat es in diesen Tagen ziemlich auf Sie abgesehen. Seien Sie so liebenswürdig wie möglich. Vermeiden Sie Missverständnisse in der Familie. Schreiben Sie nicht. Gehen Sie allen Menschen aus dem Weg, die Ihnen schlechte Laune machen könnten. Verreisen Sie nicht.« Um die Sorgen, die diese letzte Anweisung bei ihr auslöste, zu dämpfen und möglichst aus dem Kopf zu bekommen, blätterte Rita zur Rubrik Für Ihn weiter. Conrads Sternzeichen waren die Zwillinge, und für sie hieß es: »Eine Phase der Instabilität, in der Ihnen schnelles Handeln helfen wird. Vermeiden Sie alles, was Sie aufregen oder nervös machen könnte. Verlieren Sie nicht den Mut. Fragen Sie die Menschen an Ihrer Seite um Rat. Suchen Sie viel Zerstreuung, aber unternehmen Sie keine weiten Reisen.« Die zwei Horoskope passten zusammen wie die Hälften einer Orange.
Dieser Argos will wohl Witze machen, sagte sich Rita, und die Angst, die ihr ein paar Minuten lang das Blut hatte gefrieren lassen, verflüchtigte sich allmählich in der Stille, die sie umgab. In einer anderen Wohnung stimmte eine Nachbarin beim Frühjahrsputz ein Lied von Adamo an: »Y mis manos en tu cintura …«
Mit dem Eintritt in die Adoleszenz hatte Rita, wie es oft geschieht, begonnen, die bedingungslose Liebe ihrer Eltern gering zu schätzen. Der durch die Geburt geschlossene Pakt wurde brüchig, die Persönlichkeit brauchte Platz. Conrads Scherze, über die sie als Kind verlässlich schallend gelacht hatte – wenn er sich ausnahmsweise, exklusiv für sie, auf Spielchen mit seiner Perücke einließ, sie verkehrt herum aufsetzte oder sie sich grüßend vom Kopf zog wie einen Hut –, empfand sie nun als erniedrigend. Und Leos Hilfsbereitschaft, sei es bei den Schularbeiten (anders als andere Mütter drangsalierte sie sie damit nicht, sondern griff ihr sogar unter die Arme), sei es, wenn es galt, sich mit dem Wunsch nach zeitgemäßer Kleidung gegen den Vater durchzusetzen, sah sie nun nicht mehr als Vorzug, mit dem sie sich vor ihren Freundinnen brüsten konnte, sondern als Schwäche, die es auszunutzen galt. Ritas Innenleben war noch auf diese kleinen Revolten angewiesen, um sich zu entfalten, und manchmal, an Tagen mit besonders schlechter Laune, wünschte sie sich, ihre Eltern würden sterben, am besten beide zugleich, sodass sie allein wäre auf der Welt. Wenn sie das Begräbnis und die Tränen einmal überstanden hätte, würde sie schon zurechtkommen. Gewöhnlich durchzuckten diese Gedanken sie als euphorischer Blitz und blieben sehr ungenau, zumal eine Welle des Schuldgefühls sie sogleich wieder fortspülte. Doch an diesem Samstagvormittag half ihr das Horoskop über die Gewissensbisse hinweg und erlaubte ihr ein freieres Spiel mit der Vorstellung. Es steht in den Sternen, sagte sie sich.
Sie versuchte sich aufzuraffen, doch es gelang ihr nicht, zu schön war das Faulenzen. Um ihre Eltern aus dem Kopf zu bekommen und sich der Garbo -Wunderwelt noch näher zu fühlen, tat sie etwas, woran sie Jahre später amüsiert zurückdenken würde: Sie zog sich das Nachthemd aus. Die Berührung des warmen Lakens machte ihr Gänsehaut.
Auch wenn ihr, Christofs, diesmal erstaunlicherweise nicht verlangt, dass ich mir die Einzelheiten sparen soll, kann ich nun nicht mit der nackten, arglosen und ungezogenen Rita unter die Bettdecke schlüpfen. Denn in gewisser Weise war sie schon damals meine Mutter (die Zukunft ist in der Vergangenheit enthalten, heißt es ja), es würde also an Inzest grenzen, und sei es ein literarischer Inzest. Und lässt sie sich auch heute von nichts mehr aus der Fassung bringen, so hätten derartige Vertraulichkeiten bei der Rita von damals noch einen schweren Schock auslösen können. Ich sage deshalb nur, dass ihr nach einer Weile die Lider schwer wurden und sie wieder einschlief. Der Wunsch nach dem Tod ihrer Eltern verlor sich im Äther des Traums.
Drei Stunden vergingen. Damals war Barcelona an herbstlichen Samstagvormittagen so ruhig wie ein Altersheim. Manchmal durchbrach das Schnarren eines verstopften Staubsaugers, zwei Etagen tiefer, oder die knatternde Fehlzündung eines Motorrollers unten auf der Straße die Stille, die danach umso mehr auffiel. Ihr knurrender Magen weckte
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