Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
sehr geübt.
Mit diesen Mutmaßungen hatten wir uns in eine neue Realität begeben, eine weniger sportliche und deutlich unangenehmere. Aber was konnten wir da noch tun? Wir vereinbarten, dass Cristòfol ab sofort ein- bis zweimal pro Woche Gabriels Wohnung aufsuchen würde, um zu sehen, ob sich etwas geändert hätte oder ob die italienische Nachbarin bereit wäre, uns weitere Hinweise zu geben. Ab und zu würde er auch Feijoo in seiner Bar ausspähen, vor allem freitag- und samstagabends.
Unterdessen, fanden wir, lag der beste Weg, um unser Gespür für Gabriels Gegenwart zu schärfen, darin, weiter seine Vergangenheit auszuleuchten. Vielleicht kommt euch das wie ein Trick vor, mit dem wir Zeit schinden wollen, aber das ist uns egal. Zudem wissen wir ja, dass alles in Zyklen verläuft, dass die Zeit sich wiederholt und dass Gegenwart und Vergangenheit manchmal verschmelzen. Zum Beispiel: Während wir uns auf der Suche nach unserm Vater auf dubiose Fährten begeben, setzt – dreißig Jahre zuvor – eine junge Frau namens Rita ebenfalls alles daran, ihn zu finden (geleitet von einem falschen Aszendenten).
Also los, Cristòfol. Du schon wieder.
Nun gut. Wir waren am 16. Februar 1972 stehen geblieben, dem Tag, an dem sich Rita, eines vertauschten Passes wegen, in Gabriel verliebte, von dem sie glaubte, er hieße Serafí Bundó. Als sie am Mittwoch aus dem Käfig kam, machte sie die Wohnung des Unbekannten ausfindig. Das war nur ein erster Schritt. Obwohl sie sich den ganzen Morgen mit aller Kraft den Nachforschungen gewidmet hatte, blieb seine Tasche verschwunden. Aber er hatte ihr seine Adresse gegeben, sie wusste, dass er ganz in ihrer Nähe wohnte, und sie fand, damit schrumpfte der Abstand, der sie vereinte, beträchtlich. Ja, Christofs, ich sage bewusst vereinte anstatt trennte , denn trennen, davon war Rita in dieser Phase schon überzeugt, konnte sie nichts und niemand mehr. Es war bloß noch eine Frage der Zeit. Wenn die Sterne beschlossen hatten, ihre Geschicke miteinander zu verweben: Wer wären sie beide, ihnen zu widersprechen? Die heutige Rita würde auf diese Frage tausend überzeugende Antworten finden, doch die Rita von damals, zwanzig Jahre alt, allein in der Welt und horoskophörig, fing nicht einmal an, zu überlegen.
Sie stieg an der Plaça de Catalunya aus dem Bus und ging denselben Weg wie jeden Tag. Zur Rambla, durch den Carrer Elisabets, weiter in Richtung Joaquim Costa. Im Carrer del Tigre lief sie jedoch an ihrer Haustür vorbei und weiter zur Ronda de Sant Antoni. Sie zählte die Schritte bis zur Hausnummer 70 von ihrer Tür aus – genau hundertzweiundneunzig! –, und dann musste sie feststellen, dass dieser Serafí ihr die Adresse einer Pension gegeben hatte. Der gesegnete Optimismus, der sie beherrschte, konnte das aufkeimende Gefühl, getäuscht worden zu sein (eine Pension war, wie ein Flughafen, nur ein Durchgangsort), unterdrücken und ihre Gedanken in gute Bahnen zurücklenken. Umso besser, wenn er keine Wohnung hat, dachte sie: Blumen ohne Wurzeln lassen sich leichter pflücken. Sie trat an den Rand des Gehsteigs, um die Fassade des Gebäudes zu betrachten. Unter anderen Umständen wäre ihr die Haustür, aus zerkratztem Aluminium, schäbig und billig vorgekommen, doch nun erschien sie ihr praktisch. Sie blickte auf den verglasten Balkon im ersten Stock, wo sich, wie sie annahm, die Pension befand. Hinter den Scheiben saßen zwei Männer in Sesseln, mit dampfenden Teetassen in der Hand, und unterhielten sich angeregt. Auch wenn drinnen kein Licht brannte und sie sich nur als Silhouetten im Halbdunkel abzeichneten, überzeugte sich Rita, dass keiner von ihnen Serafí war: beide zu lebhaft. Inzwischen trat eine kleinwüchsige, sehr gepflegte Dame in einem schwarzen Kleid aus dem Haus. Für einen Moment kreuzte sich Ritas Blick mit ihrem, dann stöckelte die Dame davon. Rita nutzte die Gelegenheit, um in den Hauseingang zu schlüpfen. Sie konnte es nicht vermeiden – alles, was mit Serafí zu tun hatte, zog sie magisch an. Sie stieg die Treppe hoch in den ersten Stock und stand vor der Pensionstür. An der Wand hing der präparierte Kopf einer Ziege und musterte sie mit dem Blick eines unbestechlichen Gelehrten. Und wenn sie nun schellte und nach Serafí fragte? Aber was würde sie ihm sagen – dass seine Tasche noch nicht aufgefunden worden war? Sie sehnte sich danach, ihn wiederzusehen, weit weg vom Flughafen, in seinem Revier, aber plötzlich kam sie sich unter dem Blick
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