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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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durch diese Räume geschallt war … Und was war jetzt noch davon übrig?
    Aber, Christofs, haltet euch nicht zu lange mit der Szene auf. Sagt, wenn ihr wollt, das Leben sei ein Haufen Scheiße, da habt ihr auf jeden Fall recht. Bloß führt uns dieser Satz in eine enge Sackgasse, und wie man weiß, bevorzugen Fernfahrer breite Landstraßen mit guten Sichtverhältnissen (bitte entschuldigt die Verkehrsmetapher, sie ist mir herausgerutscht). Außerdem zeigt uns die Erfahrung, dass das Leben vor allem eine schwarze Komödie ist. Schauen wir also, was mit Rita geschah. Wir ließen sie ja zurück, als sie vor der Pension Wache stand, fröstelnd, aber ohne dass ihre Aufmerksamkeit auch nur für einen Moment nachließ. Stundenlang harrte sie aus. Alle Männer, die das Gebäude betraten oder verließen, sah sie sich genau an und vertrieb sich die Zeit mit Spekulationen, in welchem Verhältnis sie zu Serafí stehen mochten. Um acht Uhr beobachtete sie, wie die Dame von zuvor heimkehrte, nun noch eiliger (sie musste den Pensionsgästen ihr Abendessen machen). Als es zehn Uhr schlug, merkte Rita, dass ihr ein Bein eingeschlafen war. Sie hatte Hunger und ging nach Hause.
    Am nächsten Morgen nahm sie nicht gleich den Bus, sondern machte einen Umweg an der Pension vorbei. Für den Fall der Fälle. Aber nichts. In der Eile und Nervosität hatte sie vergessen zu frühstücken. So begann der Tag, an dem sie zweimal das Bewusstsein verlieren sollte.
    Kaum im Käfig angekommen, prüfte sie die Liste der aufgefundenen Gepäckstücke. Sie stellte fest, dass der Fall noch nicht gelöst war, atmete ein paarmal durch und begann, sich wütenden Kunden zu widmen. Ihre Fragen stellte sie mechanisch, ohne bei der Sache zu sein, sie hoffte auf eine Gelegenheit zur Frühstückspause. Auf die Geburtsdaten in den Reisepässen achtete sie nicht mehr, und es war ihr egal, was für Klagen die Passagiere über sie ergossen. Ein neues Kapitel in ihrem Leben hatte begonnen. Serafí Bundó war sich dessen noch nicht bewusst – es stand bloß in seinen Sternen geschrieben –, aber dies war der zweite Tag ihrer gemeinsamen Existenz.
    Ein weiterer Reisender trat an den Schalter und sagte, wie alle anderen, er wolle einen verlorenen Koffer melden. Rita würde sich später nicht erinnern können, wie dieser Mann aussah, ob er groß oder klein war, jung oder alt, hässlich oder hübsch. Er hatte für sie kein Gesicht. Wenn sie an ihn dachte – und das tat sie oft in der nächsten Zeit –, kam ihr nur eine zufällige oder vielleicht auch nicht zufällige Bewegung seiner Hände in den Sinn und dazu das verwirrende Gefühl, nicht zu wissen, ob sie ihm dankbar sein oder ihn verfluchen sollte.
    Der Passagier kam aus Madrid. Rita füllte das Formular mit seinen Daten aus und bat ihn vorschriftsgemäß, die Einträge zu überprüfen und zu unterschreiben. Der Mann griff sich den gelben Zettel und las ihn durch. Mit der rechten Hand angelte er aus der Innentasche seiner Jacke einen Füller. Es schien ein edles und sehr empfindliches Gerät zu sein (oder ein übervorsichtiger Mann), denn um der Feder beim Schreiben nicht zu schaden, legte er eine gefaltete Zeitung zwischen Theke und Formular. Bei der Zeitung handelte es sich um eine Ausgabe des Correo Catalán, aufgeschlagen war eine der hinteren Seiten. Vermutlich hatte er sie an Bord seiner Maschine bekommen und durchgeblättert. Mit dem Kreuzworträtsel war er halb fertig geworden. Die Feder unterzeichnete das Formular, dann gab die Hand es Rita zurück. Nun war die Zeitungsseite ganz zu sehen. Ehe der Mann sie wieder an sich nahm, erkannte Rita, dass dort auch die Todesanzeigen standen, und mit seiner monatelang antrainierten Geschwindigkeit erfasste ihr Blick ein eher unscheinbares Rechteck, mittig am unteren Rand, in dem Folgendes zu lesen war:
    SERAFÍN BUNDÓ VENTOSA
    (1941–1972)
    So etwas kommt vor.
    Ritas Gehirn reagierte zu langsam. Es war wie in den Sekunden, die Blitz und Donner trennen. Der Mann war schon gegangen, mit der Zeitung in der Hand, in Gedanken bei seinem verlorenen Gepäck, und sie stand immer noch da wie gelähmt, hielt sich an der Theke fest, um nicht umzusinken. Eine Kollegin fragte sie, ob alles in Ordnung sei. Sie hörte die Stimme, aber sie konnte nicht antworten, denn sie verstand die Frage nicht. Ihr Blick hing an der Zeitung fest und an der Hand dieses Mannes, der sich entfernte. Bald wäre er nicht mehr zu sehen. Ganz langsam begann ihr Herz wieder zu schlagen. Das kann nicht

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