Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Gelegenheit, um noch einmal hinaufzusteigen und zu klingeln, aber ohne Erfolg. Also kehrte sie zurück auf ihren Posten. Die Stunden verstrichen, es hörte auf, zu regnen, es wurde dunkel, ein paar Straßenlaternen gingen an. Das Balkonfenster blieb ohne Licht, lange Zeit als einziges in der ganzen Fassade, wie ein fehlendes Auge. Einige Male glaubte Rita dort doch ein schwaches, zittriges Schimmern wahrzunehmen, vielleicht von einer Kerze, aber dann merkte sie, dass es nur ein Widerschein des Sternenhimmels war. Vom vielen Hinaufblicken tat ihr der Nacken weh. Um halb elf, als der Wirt der Bar den Rollladen hinunterließ und anscheinend alle nach Hause gingen, schlüpfte sie noch einmal in das Gebäude. Diesmal klingelte sie nicht, presste nur das Ohr an die Wohnungstür. Das Treppenhauslicht verlosch, und dann schien ihr, dass ein hohles, metallisches Geräusch von der anderen Seite her zu hören war, wie wenn jemand mit der Winde eines Brunnens den Wassereimer heraufzieht. Wenn ihm die Stille zur Last wird, erfindet das Ohr die seltsamsten Klänge. Sie erschrak und rannte die Treppen hinab, nahm immer drei Stufen auf einmal, und in den Wohnungen übertönten die laufenden Fernseher das Poltern ihrer Sprünge. Um Mitternacht waren alle Fenster dunkel, und sie gab auf. Ihre Füße waren eiskalt, und erst an der Plaça Virrei Amat erwischte sie ein Taxi.
Am Morgen erwachte sie fiebrig und mit schmerzenden Knochen, dennoch trat sie wieder zur selben Mission an wie tags zuvor. Auch das Ergebnis war das Gleiche, nichts als ein Haufen Wartestunden. Es ist ein Drama und zum Verzweifeln, wenn man bedenkt, dass Gabriel die ganze Zeit tatsächlich in der Wohnung war, in diesen zwei Tagen aber nur die zum Überleben notwendigen Bewegungen machte. Bett, Toilette, Bett. Bett, Küche, Bett. Kein einziges Mal betrat er das Esszimmer oder näherte sich dem Fenster. Die Außenwelt, zu der auch die Tür, die Klingel und der auf die Klingel drückende Finger zählten, hatte aufgehört zu existieren.
Als sie am Sonntag spätabends mit dem Bus nach Hause fuhr, hätte Rita sich sehr elend fühlen können, doch sie zog es vor, die nutzlosen Stunden als Probe ihrer Zähigkeit aufzufassen, als Vorgeschmack auf all das, was sie noch würde erdulden müssen. Wie weit war sie bereit zu gehen? Die Frage war ihr an diesem Abend in den Sinn gekommen, in einem schwachen Moment. Die Antwort ließ sich kaum in Worte fassen, aber sie bemühte sich: Sie würde Gabriel so lange weitersuchen, wie es unvermeidlich war. So lange, wie sie weiterhin das unbezähmbare Bedürfnis danach verspürte.
So wie jetzt. Der Bus fuhr den Passeig de Sant Joan hinab und überquerte die Diagonal. Er hatte die Statue von Pater Cinto hinter sich gelassen, und Rita riss die Augen auf wie die Eule auf dem Schild der Firma Rótulos Roura, um die Leute zu beobachten, die um diese Zeit noch unterwegs waren. Nachtsicht. Jeder von ihnen könnte er sein. Man musste nur auf die Zeichen achten: müde Schritte, ein Gipsarm, ein geistesabwesender Eindruck. Oder jetzt, da sie an der Plaça Tetuan auf die Gran Via abgebogen waren. Zwei Männer warteten an einer roten Ampel und stritten; ein Herr und eine Dame, beide sehr elegant, spazierten Hand in Hand auf das Hotel Ritz zu – aber nein! Auf keinen Fall! –; eine Gruppe junger Leute, in Dufflecoats und Schals verpackt, tauchte aus den Tiefen einer Bar namens El Viejo Pop auf. Wenn der Bus an eine Haltestelle kam, wandte sie sich um und musterte die Wartenden, die nicht einstiegen; danach die Eingestiegenen. Alles waren Möglichkeiten, und solange ihr der Mut nicht sank, solange die Stadt ihrer Fantasie weiter Futter gab, war die Sache der Mühe wert.
Christofs: Denkt bitte nicht, dass Rita dumm war. Das stimmt nämlich nicht. Sie war nur sehr einsam.
Am Montag rief sie vom Flughafen aus bei La Ibérica an. Die Sekretärin Rebeca ging ans Telefon, und als sie nach Gabriel gefragt wurde, sagte sie, er sei krank. Sie wisse nicht, wann er wiederkomme, es könne noch lange dauern.
»Wir rufen vom Flughafen an, weil wir ihm einen Koffer aushändigen müssen, der ihm abhandengekommen ist«, log Rita. Wieder hatte sie Himmel und Erde nach der Tasche durchsucht, doch vergebens. »Gibt es eine Möglichkeit, Kontakt zu ihm aufzunehmen?«
»Er wohnt in einer Pension in der Ronda …«
»Nein, tut er nicht mehr«, schnitt Rita ihr das Wort ab. »Das haben sie uns da gerade gesagt. Wissen Sie nicht, wo er sonst sein könnte? Irgendwelche
Weitere Kostenlose Bücher