Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
dürfen wir annehmen, dass Bundós Tod, den er hätte vermeiden können, indem er in Frankfurt haltgemacht oder das Steuer des Pegaso an den Freund übergeben hätte, ihn von einem auf den anderen Tag völlig verwandelte. In der Via Favència zurückgezogen, versuchte er zwei Monate lang ohne Schicksal zu leben, als wäre er selbst gestorben, aber dann drang eine so willkürliche und aufgezwungene Tatsache wie die, dass er Gabriel hieß, in diese schattenlosen Tage vor und zwang ihn doch noch, eine echte Entscheidung zu treffen.
Seine Verkapselung war, wie wir gesehen haben, zum ersten Mal ein wenig aufgebrochen, als ihm der Unfallchirurg den Gips entfernte. Ein Arztbesuch löst ja immer einen Anfall von Transzendenz aus. Selbst wenn man nur hingeht, um sich eine Grippe attestieren oder ein Antibiotikum verschreiben zu lassen, befällt in so einem Wartezimmer noch den unbefangensten oder heitersten Patienten eine Schwere, die ihn mit dem Tod verschwistert. Das hat mit der weißen Stille zu tun, mit den ernsten Gesichtern, mit der Frage, wie schlecht es den anderen ringsum wohl geht. Bei Gabriel aber hatte der Arztbesuch die gegenteilige Wirkung. Er kam derart einsam, entfremdet und unheilbar dort an, dass selbst eine solche Umgebung ihn unweigerlich belebte.
Von nun an nutzte er immer, wenn er zum Einkaufen aus dem Haus musste, die Gelegenheit, um ein wenig spazieren zu gehen. Er schlüpfte in die englischen Schuhe, die sich nach ein paar Tagen seinen Füßen angepasst hatten, und schlenderte durch das Viertel. Der April hatte endlich gutes Wetter gebracht, strahlende Morgen, an denen die Mädchen der Sonne in kurzen Röcken und ohne Strumpfhosen entgegentraten und das erste Eis der Saison schleckten. Wenn es am Nachmittag immer noch schön war, ging Gabriel für eine Stunde in den Parc de la Guineueta. Dort setzte er sich auf eine Bank und hörte sich, als sollte er eine Allegorie des Alterns verkörpern, die Klagen der Rentner an (was ihm half, sich besser zu fühlen) und sah zugleich den Kindern beim Schaukeln zu (wobei er ihre Gesichter studierte und versuchte, sie in den Gesichtern der Wache haltenden Mütter wiederzufinden).
Von Tag zu Tag verbrachte er weniger Zeit vor dem Fernseher, der seinen neuartigen Zauber für ihn eingebüßt hatte, und wagte sich weiter weg vom Haus. Das Viertel Canyelles war damals erst halb fertig gebaut, vor allem auf der Bergseite, Richtung Roquetes. Wenn ihm nach körperlicher Betätigung zumute war, überquerte Gabriel das Gewirr der Via Favència und ging den Carrer d’Alcàntara und den Carrer Garellano bergauf, immer weiter bergauf. Hier waren die meisten Wege noch ungeteert, staubig im Sommer, schlammig im Winter. Von einem Hochspannungsmast aus, der sich einsam inmitten einer Brache erhob, führten Stromkabel in alle Richtungen zu den Gebäuden und sahen aus wie ein bedrohliches Spinnennetz. Einige Anwohner – die meisten waren Andalusier oder Murcianer – hatten vor den Häusern zwei Quadratmeter gepflastert und sie mit einem zwitschernden Stieglitz im Käfig und einer Geranie in einer alten Fünfkilodose Oliven geschmückt. Am frühen Abend, nun, da der Frühling da war, stellten sie sich Stühle heraus, um die frische Luft zu genießen. Die Männer rauchten schwarzen Tabak und taten so, als würden sie an gar nichts glauben, und die Frauen kreischten auf, wenn sie den Schatten einer Ratte die Straße hinunterfliehen sahen. Sie schlossen dann hastig die Tür, während die Männer ein kurzes zufriedenes Lachen ausstießen.
Zweimal in der Woche parkte am Vormittag ein Lieferwagen auf einer der Freiflächen. Zwei Zigeunerinnen luden Kisten voller Kleidung aus und boten den Inhalt lauthals zum Verkauf. Ein Stück weiter spielten ein paar Jungen im Grundschulalter Ball, während ihre großen Brüder Zigaretten rauchten und diskutierten, welche Mopeds leichter zu knacken seien, die Bultacos oder die Montesas. Auf seinen Spaziergängen ließ Gabriel all das hinter sich, stieg weiter und weiter hinauf, bis an den Rand des Pinienwäldchens, das oben auf dem Hügel wuchs. Dort holte er Luft, zündete sich eine Zigarette an und blickte auf die Stadt. Im Vordergrund ragten die Baukräne von Mal zu Mal höher über den wenigen alten Baracken, die noch standhielten. Die Gerippe von zwei oder drei entstehenden Hochhausblöcken warfen ihre dräuenden Schatten über die Wellblechdächer. Unterhalb der Via Favència standen die Sozialbauten schon dicht an dicht, ein Domino aus Beton,
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