Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Angehörigen?«
»Nein. Er hat niemanden. Außer den Kollegen bei der Arbeit, aber die zählen nicht mehr. So wie ich ihn kenne, kann er überall sein.«
»Überall?«
»Ja, aber ich nehme an, er ist in Barcelona. Ehrlich gesagt sehe ich ihn gerade nicht imstande, weiter wegzugehen. Er hat sich bei einem Unfall den Arm gebrochen, ich weiß nicht, ob Sie das wissen. Und er hat einen Schicksalsschlag erlitten. Sein bester Freund ist gestorben. Schauen Sie noch mal in der Pension. Oder, wenn Sie wollen, bringen Sie uns den Koffer in die Firma, dann geben wir ihn ihm …«
»Nein, das kommt nicht infrage. Wir müssen ihn persönlich aushändigen.«
Und sie legte auf.
Überall. Überall in Barcelona. Da sie keine andere Wahl hatte, nahm Rita Rebecas Worte als Herausforderung an. Am Abend, nach der Arbeit, kaufte sie die Guia Urbana de Barcelona, aktualisierte Neuauflage 1972. Als sie das Buch zu Hause aufschlug, las sie auf einer der ersten Seiten: »Mit allen 10 006 Straßen«. Doch anstatt dass ihr bei dieser Zahl schwarz vor Augen wurde, empfand sie die Begrenztheit als erleichternd. Es gibt nichts Schöneres, als verliebt zu sein. Die ungeheure Liste von Straßen reduzierte sich auf zweihundert Seiten Stadtplan! Nie zuvor hatte sie gemerkt, dass Barcelona so klein war. Es passte ja sogar in ihre Manteltasche! Was ist besser, wenn man jemanden sucht?, fragte sie sich: an irgendeinem Ort darauf zu warten, dass er vorbeikommt, oder sich selbst zu bewegen? Die Antwort lag auf der Hand, zumal sie nach dem Gespräch mit Rebeca vermutete, dass Gabriel sich irgendwo zurückgezogen hatte. Sie würde ihn da herausholen. Vom nächsten Tag an würde sie jede freie Stunde nutzen, um ihn aufzuspüren. Man musste systematisch vorgehen. Sie würde auf der ersten Seite beginnen, und solange ihr der Zufall nicht zur Hilfe kam und sie mit Gabriel zusammentreffen ließ, würde sie die Stadt durchkämmen, Viertel um Viertel. Wenn sie am Ende ankäme und ihn immer noch nicht gefunden hätte, würde sie wieder von vorne beginnen.
Natürlich hatte diese Methode keine Zukunft. Rita selbst sagt heute, dass sie im Grunde nie daran geglaubt habe. »Man kann nicht ohne Rückspiegel durch die Welt gehen«, fügt sie geheimnisvoll hinzu, aber sie erinnert sich auch, dass ihr Plan ihr damals Ablenkung verschaffte und ihr half, nicht in Grübeleien zu versinken. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass sie auf diese Weise ein ganzes Leben vergeuden könnte – oder zwei oder hundert –, ohne je mit Gabriel zusammenzutreffen. So sind wir Menschen: Uns verlocken und berühren die Liebesgeschichten, die unter widrigsten, unwahrscheinlichsten oder absurdesten Umständen aufblühen, doch wir lassen außer Acht, dass auf jedes einzelne glückliche Ende eine Million gescheiterte Hoffnungen kommen. Stimmt ihr mir zu, Christofs? Das ist ja wohl der Grund, warum wir die Schritte unseres Vaters zu rekonstruieren versuchen: weil sein Fall so außergewöhnlich ist. Wie es Leute gibt, die zweimal im Lotto gewinnen oder die bei drei verschiedenen Gewittern vom Blitz getroffen werden und jedes Mal überleben, so wurde ihm die seltsame Wohltat zuteil, dass vier Frauen ihn erwählten. Nicht eine, nein, vier.
5
U NENTSCHIEDENHEITEN
Schon wieder ist Cristòfol an der Reihe.
Again! De nouveau! Un cop més!
Rita konnte es nicht wissen, aber während sie ihre Runden durch Barcelona drehte und mit ihren Schritten die Seiten der Guia Urbana abarbeitete, kam ein Umstand ihr zugute: dass Gabriel den Zufall anzog. Schon von dem Tag an, als eine unbekannte Frau ihn eher in die Welt warf als zur Welt brachte, hatte der Zufall sich ihn für sein Amüsement ausgesucht, wie eine Katze, die mit einer Maus spielt. Es ging so weit, dass es ihm, wenn er auf seine einunddreißig scheinbar so ereignisreichen Lebensjahre zurückblickte, schien, als habe er noch keine einzige wichtige Entscheidung selbst getroffen. Alles war mit ihm geschehen, einfach so oder weil andere es wollten, angefangen mit der Beherztheit jener Kabeljauverkäuferin vom Mercat del Born, die sein Wimmern erhört und ihm die Brust gegeben hatte. Selbst im einzigen Willensentschluss seines Lebens – dem Entschluss, in der Pension zu bleiben – drückte sich weniger ein Wille als ein Nichtwille aus, es war eine passive Geste.
Rita suchte den Zufall, war von ihm besessen; auf Gabriel kam er unausweichlich herab. Da haben wir den großen Unterschied, der die beiden vereinte.
Wenn wir dieser Linie folgen,
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