Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
zu verabschieden. Er hatte es eilig, unten erwartete ihn ein Arbeitskollege mit dem beladenen Lieferwagen. Als er schon auf der Treppe war, wegen seinem Gipsarm ging er seitwärts, da rief ich: ›Gabriel!‹, und fragte ihn, ob er nun in Bundós Wohnung ziehe. Er hat mich durch das Treppenloch angeschaut und mir nur noch einmal zum Abschied zugenickt, weder Ja noch Nein hat er gesagt. Weißt du, wir sind ja ziemlich vertraut miteinander, aber, Mädchen … Falls er wirklich in die Wohnung von Bundó gezogen ist, dann wird er, ich bitte um Entschuldigung, vor Kummer sterben, in diesem Andalusierviertel.«
Rita blieb nicht zum Kaffee. Fünf Minuten später war sie schon wieder unten auf der Straße, freudig erregt. Sie hatte die Pension mit einem Zettel, auf dem eine Adresse notiert war, verlassen und Frau Rifà versprochen, sie sofort zu unterrichten, falls es Neuigkeiten gäbe. Es war Freitagabend, und ein ganzes freies Wochenende stand ihr zur Verfügung, um Gabriel kennenzulernen. Nun konnte nichts mehr sie aufhalten.
Trotzdem schlief sie in der Nacht schlecht. Der ausgestopfte Falke ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie musste immerzu an den Blick seiner dunklen Augen denken, durchdringend und rätselhaft, und sie beneidete ihn um die Tausenden von Stunden, die er mitverfolgt haben musste, was in diesem Zimmer geschehen war.
Als sie am nächsten Morgen aus dem Haus trat, nieselte es. Mit dem Bus Nummer 50 durchquerte sie die halbe Stadt, bis er sie an einem Ende der Via Favència absetzte, dann suchte sie zu Fuß nach der Adresse. Manche Straßenabschnitte waren noch nicht gepflastert und hatten sich in Schlammgruben voller Pfützen verwandelt. Für so eine Umgebung war Rita zu herausgeputzt, sie trippelte auf den Zehenspitzen, um sich die Schuhe nicht zu ruinieren. Als sie vor dem fraglichen Gebäude ankam, wurde der Regen heftiger. Eine Frau mit einem Einkaufstrolley hielt ihr die Tür auf, und sie beeilte sich hinein. Als sie dann im Hauseingang allein war, las sie die Namen an den Briefkästen, aber fand nicht den, den sie suchte. In einem Glaskasten vom Nachbarschaftsverein hing die Todesanzeige für Serafí Bundó Ventosa. Sie überprüfte noch einmal die Etage und Tür, die auf ihrem Zettel notiert waren, und stieg entschlossen die Treppen hinauf.
Gabriel – wir wissen es ja schon – war zu Hause, und wie er zu Hause war, doch er öffnete nicht, als Rita klingelte. Eine weitere verpasste Gelegenheit. Tatsächlich verließ er nicht einmal das Bett. Zu dieser Stunde lag er noch immer unter der Decke zusammengekrümmt, wie betäubt von den Erschütterungen der letzten Tage. Er war im Morgengrauen erwacht, wenn er überhaupt geschlafen hatte, und fühlte sich unfähig, irgendetwas zu tun. Diese Lähmung, auch das wissen wir ja schon, sollte bei ihm mehr als zwei Monate lang anhalten. Rita zeigte sich hartnäckig und klingelte erneut, drückte dreimal kurz und sympathisch, um Vertrauen einzuflößen, doch es half nicht. Also legte sie das Ohr an die Tür und lauschte eine ganze Weile der kompakten Stille, die aus der Wohnung drang. Wenn sich die Tür jetzt öffnen würde, dachte sie, wäre dahinter nur eine Backsteinmauer. Ein Nachbar aus derselben Etage, der mit zwei Tüten vom Obstladen ankam, unterbrach ihre stummen Litaneien. Er keuchte vor Anstrengung, erschreckte sie mit einem rauen »Hola« und erklärte ihr, dass dort niemand wohne, der Eigentümer sei vor ein paar Tagen gestorben. Nachdem er das gesagt hatte, wartete er ab, bis sie die Treppen wieder hinunterging, ehe er in seine eigene Wohnung trat.
Wieder draußen entfernte sich Rita einige Schritte von dem Gebäude, um es in den Blick zu nehmen. Den Worten des Nachbarn glaubte sie nicht. Sie zählte die Stockwerke und rechnete sich aus, welcher Balkon der von Gabriel sein müsste. Der Rollladen war hochgezogen. Obwohl der Tag so grau war, der Himmel von tief hängenden Wolken verdeckt, sah sie in dem Fenster kein Licht brennen. Doch dieser erste Misserfolg entmutigte sie nicht. Ohne den Gehweg und die vorbeikommenden Menschen aus den Augen zu verlieren, frühstückte sie in einer Bar, ein paar Häuser weiter. Die Regenschirme der Passanten erschwerten ihr die Überwachung, und sobald sie mit dem Essen fertig war, trat sie wieder auf die Straße. Sie stellte sich unter einen Balkon, ertrug die Kälte und blieb den ganzen Tag dort. Kurz nach der Mittagsstunde sah sie, wie der grimmige Nachbar aus dem Haus trat und in die Bar ging. Sie nutzte die
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