Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
neugeborene Tochter des Schauspielers gestorben war, und als sie das gehört und ein paar Bemerkungen zu diesem Unglück ausgetauscht hatten, überlegten sie, welche seiner Filme sie kannten. Petroli erinnerte sich an Johanna von Kastilien, da war Mistral noch ganz jung gewesen, das, was man einen aufstrebenden Darsteller nennt. Bundó gedachte eines Nachmittags, an dem die Ordensschwestern sie ins Kino Goya ausgeführt hatten. Elf oder zwölf Jahre alt waren sie gewesen, der Film war Botón de ancla, mit Mistral in einer der Hauptrollen, und danach spielten alle Jungen im Waisenhaus eine Zeit lang Schiffbruch und Rettung und verkündeten, sie wollten später Seemänner werden.
Die Zeitung war ein paar Tage alt, vom Freitag, dem 21. April. Am Donnerstag, dem 20., hatte der Schauspieler sich umgebracht. Gabriel las den Artikel und lernte, dass Jorge Mistral ein Künstlername war. Eigentlich hieß er Modesto Llosas Rosell. Er hatte sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Einundfünfzig Jahre alt war er gewesen. Obwohl er Spanier war, hatte er seit vielen Jahren in Mexiko gelebt. Er hatte drei Briefe hinterlassen, einen an seine Frau, einen an einen Freund, ebenfalls Schauspieler, und den dritten an den Richter.
Als er das gelesen hatte, begann Gabriel, Mistrals Selbstmord mit seinen eigenen vagen Plänen in Verbindung zu bringen. Zum ersten Mal stellte er sich sein Verschwinden wirklich vor, seine Abwesenheit, wenn auch ohne die ganz praktischen und sehr traurigen Folgen, die sie hätte. Sollte diese Zeitungsseite ihm ein Zeichen sein? Viele Jahre zuvor hatte er durch eine zufällig aufgetauchte Zeitungsseite von den Umständen seiner Geburt erfahren. So etwas kommt vor. Und nun zeigte ihm vielleicht dieser Artikel einen Weg, dem er folgen sollte. Die Symmetrie zog ihn an.
Am Nachmittag ging er noch einmal in den Tabakladen und fragte den Kriegsversehrten, ob er die Zeitungen vom Wochenende durchblättern dürfe. Der Händler, der aller Welt misstraute, sah ihn mit seinem verbleibenden Auge scharf an, aber ließ ihn dann die entsprechenden Ausgaben heraussuchen. Ein Kunde war ein Kunde. Am Samstag berichtete La Vanguardia, Jorge Mistral habe Krebs gehabt, was jedoch fast niemand wusste, nicht einmal seine Frau. Am Sonntag versammelte ein weiterer Artikel die Beileidsbezeugungen der Freunde des Schauspielers. In einem Testament, so stellte sich heraus, hatte er darum gebeten, eingeäschert zu werden, doch seine Familie zog eine Erdbestattung vor, damit sie ihm, wie sie sagten, Blumen ans Grab bringen könnten. Gabriel fragte, ob er die beiden Seiten behalten könne – wenn nötig, würde er als Gegenleistung mehr Tabak kaufen –, und der Händler schenkte sie ihm.
Am Dienstag kaufte er die Vanguardia gleich morgens. Noch vor dem Laden blätterte er zur Gesellschaftsseite, doch es gab keine weiteren Enthüllungen. Auch am Mittwoch kaufte er sie. Gerne hätte er gewusst, was in den Briefen stand, die Jorge Mistral hinterlassen hatte. Er las sorgfältig den ganzen Gesellschaftsteil durch und fand nichts, aber dann, als er es schon aufgegeben hatte und weiterblätterte, stieß er auf der Seite mit den Polizeimeldungen auf eine Schlagzeile, die ihm das Blut gefrieren ließ:
GEORGE SANDERS HAT SICH DAS LEBEN GENOMMEN
IN EINEM HOTEL IN CASTELLDEFELS
Wieder ein Schauspieler. Diesmal nahm die Meldung mehr Raum ein, drei Spalten, dazu ein Foto von George Sanders mit jenem Gesichtsausdruck, der ihm so oft die Rolle des rätselhaften Mannes beschert hatte, freundlich, aber unnahbar. Das Gesicht kam Gabriel bekannt vor, doch er erinnerte sich an keinen seiner Filme. Unter der Schlagzeile war eine Notiz zu lesen, die Sanders hinterlassen hatte: »Ich habe diese Jauchegrube von Welt satt, ich habe Geld, um zu bezahlen, geben Sie meiner Schwester Bescheid, mit meinen besten Wünschen.«
Er hatte das natürlich auf Englisch geschrieben, in einer zittrigen Schrift, die dennoch eine kalligrafische Schönheit bewahrte, und jemand hatte es für die Zeitung übersetzt. Gabriel las jeden Satz des Artikels wie die Worte eines Orakels. George Sanders hatte sich im Zimmer 3 im Hotel Rey Don Jaime in Castelldefels umgebracht. Er hatte fünf Dosen Schlaftabletten mithilfe einer Flasche Whisky hinuntergespült. Zwei Tage zuvor war er aus Palma de Mallorca eingetroffen – im Januar hatte er das Haus verkauft, das er dort besaß –, und am nächsten Morgen sollte er nach Paris weiterreisen. Wie sich zeigte, war es ihm in letzter Zeit
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