Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
seelisch nicht gut gegangen, und er spielte mit dem Gedanken, sich ein Haus am Strand von Castelldefels zu kaufen. Vielleicht erinnerte ihn die mit Palmen gesäumte Küste an Santa Monica oder Venice Beach oder irgendeinen anderen Strand bei Los Angeles. Ein biografischer Abriss mit der Liste seiner berühmtesten Filme ergänzte die Meldung. Zwei Titel erkannte Gabriel wieder – Alles über Eva und Das Bildnis des Dorian Gray –, doch er war sich nicht sicher, ob er sie gesehen hatte. In den nächsten Tagen würde er aufs Fernsehprogramm achten, denn manchmal, wenn ein bekannter Schauspieler starb, zeigten sie im Zweiten einen seiner Filme als Hommage.
Die nächsten Stunden war Gabriel damit beschäftigt, aus den Informationen Muster herauszulesen. Was hatte es zu bedeuten, dass George Sanders und Jorge Mistral beide Schauspieler waren und überdies den gleichen Vornamen trugen? Irgendwo – wahrscheinlich im Radio – hatte er einmal gehört, dass ein Selbstmord oft weitere Selbstmorde provoziere, wie eine ansteckende Krankheit. Vielleicht hatte George Sanders seine Entscheidung getroffen – denn, ja, eine Entscheidung war es, ein mutiger Schritt –, nachdem er vom Tod seines Kollegen erfahren hatte. Und falls ja, wie ging es dann weiter? Auf welches Zeichen sollte er selbst warten? Auch in den folgenden Tagen las er wie besessen Zeitung. Zusätzlich zur Vanguardia kaufte er nun auch den Correo Catalán. Er setzte sich an den Esstisch und studierte beide Blätter von der ersten bis zur letzten Seite. Anfangs konnte er noch ein paar neue Details sammeln – die Pillen, die Sanders geschluckt hatte, hießen Nembutal und Tranxene –, dann war von dem Thema nicht mehr die Rede. Die Zeitungen mit ihrem naiven Anspruch, die Gegenwart einzufangen, sind der beste Beweis dafür, dass die Zeit ein Tyrann ist, der mit Vergessen straft.
Weil Gabriel noch nicht genug hatte, nahm er am Dienstagmorgen den Zug nach Castelldefels und begab sich zum Hotel Rey Don Jaime. Er hatte sich mit Sakko und Krawatte kostümiert, um nicht aufzufallen, doch am Empfang durchschauten sie ihn sofort und warfen ihn hinaus, sie hätten die Nase voll von Journalisten. Wenn er etwas wissen wolle, solle er zur Polizei gehen. Zwanzig Minuten später trat er erneut ein, getarnt inmitten einer Gruppe deutscher Touristen, und verdrückte sich in einen Seitengang. Als er vor dem Zimmer 3 ankam, fand er die Tür mit gelbem Klebeband versiegelt. Er überlegte eine Weile, ob er sie öffnen sollte, und wandte sich dann ab. Was hätte ich dort zu suchen gehabt?, sagte er sich, während er nach Hause fuhr. Er war nie ein Schnüffler gewesen, und das würde sich nun auch nicht mehr ändern.
Seine Neigung zum Selbstmord aber verging nicht. Im Gegenteil, sie zeigte sich hartnäckig und wusste seine schwachen Momente zu nutzen, um sich immer fester in seinem Sinn zu verankern. Zwischen dem Tod Jorge Mistrals und dem von George Sanders waren fünf Tage vergangen. Es war also nicht dumm, zu vermuten, dass wieder fünf Tage später, also am Montag, ein weiterer Suizid in den Zeitungen stehen würde. Falls nicht, würde er sich fragen müssen, ob nun vielleicht er selbst schon an der Reihe wäre.
Der Montag war allerdings der 1. Mai, Tag des Arbeiters, also Feiertag. Es war heiß, und über das lange Wochenende war die Stadt so leer geworden, dass überhaupt keine Nachrichten möglich schienen. Am Tag vorher hatte der Mann vom Tabakladen Gabriel gesagt, morgen sei geschlossen, eine Frage des Prinzips, und die Vanguardia erscheine ja montags eh nicht. Gabriel verbrachte den 1. Mai zu Hause, ohne Zeitungslektüre. Die Abstinenz tat ihm gut, die Stunden vergingen störungsfrei, doch abends konnte er nicht einschlafen. Eine neue Frage nahm Gestalt an, wie ein kleiner Klumpen, der sich nicht in der flüssigen Bewusstlosigkeit des Schlummers auflösen wollte: Wenn die Zeit gekommen war, wie würde er es tun?
Der Dienstag brachte einen Aufschub. Nachmittags war er zwei Stunden spazieren, und als er auf dem Rückweg am Kiosk vorbeikam, kaufte er lustlos, geradezu widerwillig, drei Zeitungen. Er brauchte bloß die Seite mit den Nachrufen in der Vanguardia aufzuschlagen, schon sprang ihm die Überschrift eines Halbspalters ins Auge:
ZUM TODE DES DICHTERS GABRIEL FERRATER
Der Text verschwieg, wie er gestorben war, aber die Tatsache, dass es sich um einen Dichter handelte, ließ Gabriel aufmerken. Die Dichter haben sich doch immer schon umgebracht, dachte er. Er las den
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