Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Artikel, der voller gewundener Formulierungen war, und fühlte sich in seiner Annahme bestätigt. Kurz darauf fand er es in einer anderen, weniger gehemmten Zeitung schwarz auf weiß: Es war Selbstmord.
Von allen drei Toden beeindruckte ihn der von Gabriel Ferrater am meisten. Der hatte ja sogar denselben Vornamen wie er! Erst hatte ein Jorge einen George zur Tat gerufen, nun rief ein Gabriel einen anderen Gabriel. Es war schon einige Tage her, dass der Dichter sich getötet hatte, man vermutete Donnerstag, doch erst am Montag war er aufgefunden worden. Er hatte allein gelebt, in Sant Cugat. Nicht nur Dichter war er gewesen, sondern außerdem Professor an der Universitat Autònoma. Bald wäre er fünfzig geworden. Gabriel durchforstete alle Meldungen, aber mehr erfuhr er nicht. Zum Beispiel blieb unklar, ob Ferrater irgendwelche Abschiedsworte hinterlassen hatte.
Gabriel brauchte Stunden, um die Nachricht zu verdauen, und als er endlich aufblickte, dämmerte es schon. Um diese Zeit pflegte er auf den Balkon zu treten und die vorletzte Zigarette des Tages zu rauchen (die letzte bewahrte er sich für vor dem Schlafengehen auf). Der Himmel entfärbte sich, und unten erschien die Stadt nun zart und luftig. Die Panoramasicht war einer der Gründe, aus denen Bundó sich für die Wohnung entschieden hatte. In seinem Rücken schob sich die Sonne langsam hinter die Hügel der Serra de Collserola, und Gabriel amüsierte sich bei dem Gedanken, dass der schmale Schatten seines Körpers nun ausreichte, um ganz Barcelona zu verdunkeln. Er musste nur einen Arm heben, schon wurde es in einem kompletten Stadtteil finster. Inmitten dieses Spielchens blickte er hinunter auf die Straße und wunderte sich einmal mehr darüber, wie tief es hinabging. Sechs Etagen, bis man auf den Bürgersteig klatschen würde. Ihm kam ein neuer Gedanke: Jeder Augenblick eines jeden Tages hatte für sich genommen seinen Sinn, doch wenn man sie alle zusammennahm, war das Ergebnis bedeutungslos.
Ich wiederhole es, Christofs: Ihr könnt ganz sicher sein, dass sich in diese Überlegungen, die ihn zum Selbstmord antrieben, keine tragische Komponente mischte. Ein Beweis? Am selben Abend, während er etwas so Alltägliches tat wie sich auszuziehen, in den Pyjama zu schlüpfen, sich die Zähne zu putzen, rechnete er nach, wann er an der Reihe wäre. Wenn er von heute an, also seit er von dem Tod des Dichters erfahren hatte, vier Tage ansetzte, musste er es am Samstag tun. Ja, der Samstag war kein schlechtes Datum. Doch dann kam ihm so eine Festlegung übertrieben und unnatürlich vor, außerdem fiel ihm etwas Offensichtliches ein, was er zuvor übersehen hatte: Er würde nicht in der Zeitung stehen. Kein Journalist käme auf die Idee, zu schreiben: »Ein Möbelpacker nimmt sich das Leben in …« Um der Kette der Selbstmorde wirklich ein neues Glied hinzuzufügen und seiner Tat einen Sinn zu geben, müsste er sich einen öffentlichen und allgemein bekannten Ort dafür aussuchen. Den Turm der Sagrada Família. Das Löwengehege im Zoo. Das Aussichtsflugzeug auf dem Tibidabo. Irgend so etwas Exzentrisches, was ihn auf die Titelseiten bringen würde.
Natürlich: In dem Moment, da es wirklich ernst wurde, fing er an zu kokettieren.
Am Ende, nach vielem Hin und Her, entschied er sich für das Kolumbus-Denkmal, das in Ritas Guia Urbana auf Seite 27 verzeichnet war. Ihm gefiel der Gedanke, seine letzte Abfahrt zwischen den Füßen eines legendären Reisenden zu machen. Am Samstagnachmittag, wenn die Barceloner auf der Rambla spazieren gingen, die Blumenhändler den Preis für die halb verwelkten Nelken herabsetzten und die Huren an der Ecke Escudellers und im Carrer Conde de Asalto sich die ersten Kunden einfingen. Er würde ein Ticket lösen, mit dem Aufzug zur Aussichtsplattform der Säule hochfahren, und wenn dort gerade keiner auf ihn achtete, würde er sich hinunterstürzen; dabei mit dem Blick noch einmal die ganze Stadt umarmen, vielleicht aber auch Kolumbus’ ausgestrecktem Finger folgen und aufs offene Meer schauen. Der große Seefahrer würde bei seinem Aufprall nicht einmal mit der Wimper zucken. Gab es nicht in der Geschichte aller bedeutenden Monumente, vom Eiffelturm bis zu Big Ben, einen berühmten Selbstmord, der ihnen zu noch mehr Ansehen verhalf? Nun, er würde der Nachwelt als der Kolumbus-Selbstmörder im Gedächtnis bleiben.
Obwohl er alles genau geplant hatte, ist Gabriel nie zwischen Kolumbus’ Füßen abgesprungen, hat nicht einmal den
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