Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Nächte und viele Tage dort verbracht und sich um dieses Baby gekümmert, das ich war. Rita sagt, er lernte sogar, mir die Windeln zu wechseln und so weiter, könnt ihr euch das vorstellen?«
»Entschuldige mal: Mir hat er auch die Windel gemacht, wenn es nötig war«, unterbricht Christof.
»Mir auch.«
»Mir auch.«
»Ich sehe schon, ich bin nichts Besonderes. Aber mal sehen, wer das hier übertreffen kann: Als ich etwa vier Monate alt war und meine Mutter wieder zu arbeiten begann, kam es vor, dass Gabriel eine ganze Woche bei uns blieb. Eine ganze Woche. Tag und Nacht. Was sagt ihr nun? Doch trotz dieser Ausdauer betrachtete er die Wohnung nie als sein Zuhause. Nie stand sein Name am Briefkasten. Er lebte weiter in der Via Favència, auch wenn dort sein Name ebenfalls nicht am Briefkasten stand. Anfangs missfiel Rita diese zwiespältige Haltung zur Familie nicht einmal. Es waren die Siebzigerjahre, Franco lag ständig im Sterben (und starb nie so ganz), und unter den jungen Müttern machten die Thesen der dänischen Kinderärzte Furore. Zudem misstraute Rita in ihrer Eigenschaft als militante Waise der elterlichen Autorität grundsätzlich, und ihr gefiel die Vorstellung, dass ich ein bisschen alleingelassen aufwüchse, aber nur ein bisschen. Ich nehme an, da hatte sie sich schon an Gabriels Abwesenheiten gewöhnt. Dass er kam und ging, war Teil einer Lebensweise, und man musste es als Kontrapunkt zu der fraglos leidenschaftlichen Hingabe betrachten, mit der er sie behandelte, wenn sie zusammen waren. Nicht wahr, Christofs, das kommt euch bekannt vor? Ganz sicher war er mit euern Müttern genauso. Dieser Eindruck ständiger Dankbarkeit, den er machte, als wäre ihm klar, dass er mit seinem kurzen Vorhandensein für die langen Stunden des Fehlens und Wartens entschädigen musste. Auch wenn dieses Arrangement nie ausgesprochen wurde, funktionierte es von Anfang an und wurde dann immer mehr verfeinert …«
»Words are flowing out like endless rain …«
»Siehst du, was geschieht, wenn du dich verzettelst? Du provozierst ihn. Wir haben gesagt fünf Minuten, Cristòfol.«
»Wir kennen dich ja …«
»Okay, okay. Ab jetzt im Telegrammstil. Bei ihrem Treffen im Tal der Tränen eröffnete Rita Gabriel, dass sie ihn suchte, seit er am Flughafen einen verlorenen Koffer gemeldet hatte. Achtzig Tage war das her. Gabriel konnte sich nicht an sie erinnern, doch die Tapferkeit dieses Mädchens rührte ihn in der Seele, und er ließ sich mitnehmen. Notiert euch diesen Ausdruck, er scheint mir wesentlich: sich mitnehmen lassen. Das lange Weinen hatte ihnen den Mund ausgetrocknet, sie waren durstig und hungrig. Also aßen und tranken sie in irgendeiner Bar. Sie sprachen mit vollem Mund. Überglücklich erzählte Rita ihm von ihrer Nachtwache in der Via Favència und wie furchtbar sie dabei gefroren hatte. Keine Spur von Vorwurf lag in ihren Worten. Und anstatt sie für eine Verrückte zu halten oder in Panik zu geraten, war Gabriel dankbar dafür, dass in jenen schlimmen Stunden jemand an ihn gedacht hatte. Sie lachten beide, als er zugab, dass er es an der Wohnungstür hatte klingeln hören, aber völlig willenlos gewesen war. Ja, sie lachten.
›Ist doch besser so‹, sagte Rita, und er nickte froh. ›Alles ist gut, wenn es ein gutes Ende nimmt, oder?‹
Das von Bundó aus dem Jenseits eingefädelte Blind Date war ein voller Erfolg. In dieser Nacht schlief Gabriel nicht in der Via Favència und eiterte auf ein unbekanntes Kopfkissen. Am nächsten Morgen machte Rita ihm einen neuen Verband. Dank der um Bundó vergossenen Tränen fiel sein Ohr ihm immer weniger zur Last. Das ganze Wochenende gingen sie nicht aus dem Haus. Sie blieben im Bett und erzählten sich aus ihrem Leben, sprangen von einem Ereignis zum anderen. Das Flugzeugunglück von Conrad und Leo. Der Unfall des Pegaso. Man darf annehmen, dass Gabriel selektiver war und darauf achtete, was er ihr sagen konnte und was nicht. Der Moment des großen Einverständnisses kam, als er ihr von den Diebstählen bei La Ibérica berichtete.
›Bei jedem Umzug behielten wir einen Koffer, eine Kiste oder ein Paket für uns …‹
›Ist das wahr? Genau dasselbe machen wir am Flughafen! Wir behalten die Koffer, die verloren gehen. Wir sind Seelenverwandte.‹
›Ja …‹
Am Montag begleitete Gabriel Rita zur Bushaltestelle und fuhr dann selbst wieder zu Bundós Wohnung. Diese erste Rückkehr in sein Winterquartier dauerte nur einen Tag. In der folgenden Nacht schlief
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