Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
sich in der Vergangenheit zu bewegen. Das Bühnenbild war fast unverändert, aber die Darsteller hatten gewechselt. Vielleicht war es auch umgekehrt, und die Besuche bei uns fühlten sich für ihn wie eine Reise in die Zukunft an, in eine Zukunft, die nicht seinen Vorstellungen entsprach.
Auch wenn Gabriel für unser Empfinden nicht plötzlich, sondern nach und nach verschwand, können wir den Tag genau benennen, an dem wir zum letzten Mal zusammen in unserer Wohnung waren. Es war der 20. November. Also Francos Todestag. Wir hatten den Vater seit einer Woche nicht gesehen, da stand er nachmittags überraschend vor der Tür. Am Abend brachten er und Rita mich ins Bett und gingen dann noch hinunter ins Principal, das Café an der Ecke, um zu schauen, wie die Stimmung war. Die Betreiber hatten ein Radio auf die Theke gestellt. Sobald Nachrichten kamen, erstarb im Lokal jedes andere Geräusch. Es gab ein paar lange Gesichter zu sehen, aber die meisten Gäste und auch die Kellner konterten die erschütterten Durchsagen mit sarkastischen Sprüchen. ›Der gibt nie den Löffel ab, der alte Metzger.‹ – ›Wenn er so leidet, sollen sie ihm doch den Gnadenschuss geben.‹ – ›Mal sehen, ob er uns so lange warten lässt, bis der Sekt schal wird.› – ›Der kann nicht sterben, weil sie ihn in der Hölle auch nicht wollen.‹
Rita war nervös, weil sie mich alleine in der Wohnung gelassen hatten, und so kamen sie zurück. Sie stellten den Fernseher an, um zu schauen, ob es Neuigkeiten gab, doch die Stunden schleppten sich in hypnotischer Trägheit dahin. Als sie sich gerade schlafen legen wollten, hörten sie in einer Nachbarwohnung einen Korken knallen, dazu einen Jubelschrei. Angesteckt von der Freude und Ungeduld dieses Nachbarn, gossen sie sich zwei Gläser Wein ein und prosteten sich zu. Der Lärm hatte mich aus dem Schlaf gerissen, und plötzlich hellwach, fing ich an, mit den beiden zu spielen. Es war schon nach Mitternacht, und von der Euphorie hingerissen, wagte es Rita, Gabriel zu sagen, er solle doch nun definitiv bei uns einziehen. Er sagte wie immer weder Ja noch Nein. Es gibt nichts Definitives.
Gabriel hatte mit dem Lieferboten verabredet, ihn frühmorgens auf seiner Runde zu begleiten. Um Punkt sechs Uhr ertönte also die Hupe des 2 CV unten auf der Straße, und der Vater ging fort. Meine Mutter nahm mich auf den Arm, und wir winkten ihm zum Abschied aus dem Fenster.«
»Du hast noch eine Minute, Cristòfol. Tut mir leid.«
»Tick, tack, tick, tack …«
»I’m a loser, and I’m not what I appear to be …«
»Hör auf mit dem Scheiß, Chris. Ich bin ja so gut wie fertig. Also kurz, ganz kurz, nun wirklich wie ein Telegramm. Gabriel. Distanz. Schweigen. Tage vergehen. Hat sich in Luft aufgelöst. Kommt nicht mehr. Stopp.« – Atempause – »Rita. Müde. Verdattert. Nase voll. Was ist da los? Sie verzweifelt. Malt sich absurde politische Hintergründe aus. Aber da besteht kein Zusammenhang. Sucht ihn bei sich zu Hause. Er ist nie da. Enttäuschung. Für immer verschwunden. Zeit heilt alle Wunden. Stopp.« – Atempause – »Ich. Vermisse ihn. Mama, wo ist Papa? Vergesse ihn. Werde drei Jahre alt. Vier, fünf, sechs. Vergesse ihn zornig. Hasse ihn. Stopp.« – Atempause – »Irgendwann suchen wir ihn doch noch mal in der Via Favència. Er hat die Wohnung schon lange verkauft, sagen sie uns da. Wir vergessen ihn notgedrungen. Vergessen ihn gerne. Mehr als zwanzig Jahre vergehen. Stopp.« – Wieder Pause – »Polizei ruft an. Wir Christofs. Lernen uns kennen. Fangen an zu suchen. Da sind wir. Jetzt. In der Gegenwart.«
»Zeit!«
»Uff. Unmenschlich ist das. Grausam seid ihr.«
»Danke, Cristòfol.«
»Ja, danke.«
Wir glauben, die Leute zu kennen, die uns umgeben, und ihre Gefühle einschätzen zu können, aber da täuschen wir uns gewaltig. Das Innenleben eines Menschen ist das bestgehütete Geheimnis der Welt, ein Kämmerchen mit schwer gepanzerten Wänden. Im Lauf der langen Zeit, die wir Gabriel nun schon suchen, der unzähligen Stunden, die wir damit verbracht haben, seine Wege nachzuzeichnen, bis zu dem Tag, da ihn der Erdboden zu verschlucken schien, fragten wir Christofs uns immer wieder: Kennen wir ihn nun wirklich? Dabei ist die Frage schon falsch gestellt. Obschon du nicht anders leben kannst, als indem du voranschreitest, bekommt die Existenz – jede Existenz – einen Sinn nur dann, wenn du zurückblickst und sie in ihrer Gesamtheit zu begreifen versuchst: die Geschichte,
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