Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
er wieder bei Rita. Die nächste Rückkehr zog sich über zwei Tage. Rita wollte ihn nicht drängen, denn sie sah, wie weich und unsicher er war und dass er Zeit für sich allein brauchte. Er hatte ihr von seiner Talfahrt nach Bundós Tod erzählt und ihr auch die Selbstmordepisode nicht erspart. Also wussten sie beide, dass Ritas Erscheinen ihn davon abgehalten hatte, sich früher oder später vom Kolumbus-Denkmal zu stürzen.
Monate später, Rita war bereits hochschwanger, bestand er dann darauf, gemeinsam mit ihr auf das Denkmal hochzufahren. Es war an einem Sonntag vor dem Aperitif, und ihm schien es eine gute Art, diese finsteren Gedanken für immer zu begraben. Als sie auf der Aussichtsplattform zu Füßen der Statue angelangt waren und von oben auf den Hafen blickten, auf den Montjuïc, die weihnachtlich geschmückte Rambla und so weiter, da fiel ihm auf, dass es schwierig gewesen wäre, von dort abzuspringen. Die Fenster waren vergittert.
Nachher sagte er zu Rita: ›Weißt du, was? Wenn es ein Junge ist, sollten wir ihn Christoph nennen, wie Christoph Kolumbus.‹
Sie, überzeugt, einen Jungen im Bauch zu tragen, hielt das für eine großartige Idee, und so nannten sie mich Cristòfol.
Meine Mutter sagt, nach meiner Geburt gab es eine Phase, in der Gabriel viel Zeit mit uns verbrachte. Zuvor hatte er sich an einer Rückkehr zu La Ibérica versucht. Seine Ersparnisse gingen zur Neige, und Herr Casellas hatte ihn wieder als Transportfahrer eingestellt. Gabriels Bedingung war, dass er nur kurze Strecken fahren würde, nur im Großraum Barcelona, mit dem DKW, doch nach einer Weile warf er das Handtuch. Er wurde schneller müde als früher, oft schwoll ihm der Arm an, der gebrochen gewesen war, und die Routine der Fahrten erinnerte ihn zu schmerzlich an die Zeiten mit Bundó. Als Casellas ihn so geschwächt sah, fühlte er sich schuldig und schlug ihm vor, doch wieder internationale Umzüge zu übernehmen. Er hatte gerade einen neuen Lastwagen gekauft, nun waren die Transporte bequemer. Gabriel lehnte ab, und ein halbes Jahr später verließ er die Firma von Neuem, diesmal für immer. (Wir dürfen ja annehmen, dass eine Rückkehr auf die europäischen Autobahnen für ihn eine Herausforderung mit sich gebracht hätte, der er moralisch nicht gewachsen war: sich bei seinen anderen Söhnen und Frauen wieder blicken zu lassen.) Er kündigte, ohne irgendeine andere Arbeit in Aussicht zu haben. Fürs Erste jobbte er hier und da ein bisschen. Ein Mann, der im Viertel Bestellwaren auslieferte, hatte sich einen Bruch gehoben, und in der Zeit bis nach seiner Operation fuhr Gabriel für ihn im 2-CV-Kastenwagen umher und verteilte die Pakete, von denen er diesmal keines abzweigte. Ein paar Monate vor meiner Geburt kassierte Rita endlich die Lebensversicherung der Eltern und hatte nun Geld auf der Bank. Also schlug sie vor, ihm ein Auto zu kaufen, sodass er seinen eigenen Lieferservice gründen könnte, doch er zog die Brauen zusammen und nahm das Angebot nicht an. Er wollte kein Chef sein, nicht einmal sein eigener. Rita kannte diese Art von Reaktion schon, das Gleiche hatte sie erlebt, als sie einmal halb im Scherz fallen ließ, man könnte doch heiraten.
Im Herbst 1975 ging Gabriel immer mehr auf Abstand zu uns, bis der Tag kam, von dem an wir ihn gar nicht mehr sahen. Rita hatte sich nie die Illusion gemacht, er würde bei uns einziehen, aber eine Weile lang hatte sie ihn fast in einen Familienmenschen verwandeln können. Wir gingen zusammen spazieren, er trug mich auf den Schultern, er sang mir Lieder vor, er wirkte glücklich. Dann wurden seine Besuche seltener. Es begann damit, dass er zur Unzeit auftauchte, wenn wir gar nicht mit ihm rechneten, und dass er, wenn wir verabredet waren, in letzter Minute anrief, er werde nicht kommen. Rita fand sich wohl oder übel mit dieser Wankelmütigkeit ab, sie tat es aus Liebe, doch er entwickelte wohl Schuldgefühle, und auf einmal wollte er gar keine festen Abmachungen mehr treffen, nichts mehr mit ›An dem Tag machen wir das und das‹. Nein, er wollte, dass die Dinge ganz offen blieben, ganz frei. Als Rita ihn fragte, warum er sich so schwertue, sagte er, die Via Favència sei so weit weg. Fast eine andere Stadt sei das, ein anderes Barcelona. Wenn ich darüber nachdenke, scheint mir, er meinte damit weniger den Raum als die Zeit. Im Carrer del Tigre zu sein, hundert Meter Luftlinie von Frau Rifàs Pension und in Rufweite der Casa de la Caritat, hieß für ihn vielleicht,
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